Landschaft für die Seele, Marmelade für den Tee
Seit Jahren zieht es Holger Fritzsche immer wieder nach Russland. Er ist jedes Mal aufs Neue fasziniert vom grössten Land der Welt: von seiner bewegten Geschichte, den gewaltigen Landschaften zwischen Europa und Ostsibirien und nicht zuletzt von der warmherzigen Gastfreundschaft der Russen.
Ausgabe: Nr. 123 Text & Fotos: Holger Fritzsche
Moskau, Jaroslawler Bahnhof. Andere Reisende hasten an mir vorbei, Menschen mit Rucksäcken und Wanderschuhen. Runde Frauen schleppen, laut diskutierend, riesige karierte Taschen. Jugendliche kreuzen meinen Weg, die mir genauso gut im Berliner Hauptbahnhof entgegenkommen könnten. Sie tragen Basecap oder Hipsterhütchen, Skinnyjeans. Cool und lässig wirken sie. Dazwischen höre ich das dominante Klappern der Killerheels russischer Frauen. Mein Zug nach Irkutsk steht schon bereit.
Auf dem Bahnsteig wartet vor jedem Waggon eine Zugbegleiterin, die Provodniza. «Natalia» steht auf dem Namensschild der jungen, uniformierten und resolut wirkenden Schaffnerin meines Bahnwagens. Sie wird den Reisenden später die Bettwäsche bringen, für Sauberkeit im Waggon sorgen und Tee zubereiten. Ich würde sie gern von meinem freundlichen Wesen überzeugen, aber mein versöhnliches Lächeln nimmt sie nicht wahr. Wozu auch? Russen sehen keinen Sinn darin, fremde Menschen ohne besonderen Grund anzulächeln. «Billett, Passport!», begrüsst sie mich – ohne von ihrer Liste aufzublicken. Ich belasse es bei einem freundlichen «Strastwuitje» und reiche ihr Pass und Ticket. Sie blickt kurz zu mir auf, hakt meinen Namen ab und nickt wortlos Richtung Waggontür. Einige Tassen Tee, ein paar kurze Gespräche später lächelt sie dann doch zurück.
Ich reise in einem Vierbettabteil der 2. Klasse. Zwei Passagiere schlafen oben, zwei unten. Bis jetzt sind wir nur zu dritt im Abteil. Mit einem sanften Ruck setzt sich der Zug in Bewegung. Überall stehen winkende Reisende an den Fenstern, Tränen fliessen. Der Bahnhof bleibt zurück, draussen ziehen die Aussenquartiere Moskaus vorbei. Ich entspanne mich.
Ich bin unterwegs auf dem längsten Schienenstrang der Welt, durch den grössten Flächenstaat und zum tiefsten See der Erde. Immer der aufgehenden Sonne entgegen, um am Ende der 9288 Kilometer langen Strecke der Transsibirischen Eisenbahn in Wladiwostok am Pazifischen Ozean zu stehen. Zwischenstopp ist der Baikalsee.
Mir gegenüber sitzt eine Frau Ende fünfzig. Sie liest dünne russische Groschenromane. Zwischen ihren Füssen steht eine Tasche, aus der sie regelmässig neue Leckereien ans Tageslicht befördert und uns beiden Mitreisenden, also auch mir, mit mütterlichem Nachdruck anbietet. Irina heisst sie. Alexej, Mitte zwanzig, sitzt neben ihr. Zufrieden kauend, hält er mir zum dritten Mal sein Handy vor die Nase und gibt mir zu verstehen, ich solle genau zuhören. Es ertönen russische Flüche als Klingelton.
Eingebettet in diese Spielart russischer Gastfreundschaft, besorge ich uns allen Tee. Frisch aufgebrüht mit dem Wasser des Samowars, der sich im Gang eines jeden Waggons befindet. Irina strahlt mich an, legt aber sofort ihre Hand auf die meine, als diese gerade dabei ist, das zweite Stück Zucker Richtung Teeglas zu befördern. Ich halte inne und schaue sie fragend an. Sie lächelt nur vielsagend, bückt sich und holt ein grosses Glas Marmelade aus ihrer Tasche. Drei Löffel selbst gemachte Marmelade sinken langsam in meinem Teeglas zu Boden. «Schmeckt er?», will Irina wissen. «Köstlich!», lüge ich, freue mich aber, dass ich ihr mit einer kleinen russischen Vokabel eine grosse Freude bereiten konnte.
Vor Jekaterinburg hält der Zug an einer kleinen Bahnstation. Die Türen bleiben geschlossen. Es ist kein offizieller Halt. Ich gehe in den Gang, denn nur dort lassen sich die Fenster öffnen, und schaue hinaus. Eine kleine Siedlung ist zu sehen und Wald – viel Wald. Landschaft im Ural. Gleich einem Meridian zieht sich dieses über 2500 Kilometer lange Gebirge von der kalten Tundra im Norden über Taiga und Waldsteppe bis zur Wüste im Süden. Die Berge präsentieren sich üppig. Eine Landschaft für die Seele.
An diesem Haltepunkt zeigt sich Russland von seiner ländlichen Seite. Zwei Männer hocken rauchend auf dem Bahnsteig, ein altes Mütterchen bietet Sonnenblumenkerne zum Verkauf an, einer schraubt vor einem Holzhäuschen an seinem mindestens dreissig Jahre alten Auto, ein Trupp streunender Hunde bellt sich die Seele aus dem Leib. Man könnte hier einen Film drehen über die traurige Melancholie des Landlebens. Einen Film über die Abwesenheit von Abwechslung und Chancen.
Die grossen Städte Russlands wie Jekaterinburg, Omsk oder Nowosibirsk reihen sich entlang der Transsib wie Perlen an einer Schnur. Einzig dort halten die Züge, um Fahrgäste ein- oder aussteigen zu lassen. Russland ist ein Land der Gegensätze, das wird mir bewusst, wenn ich aus dem Zugfenster schaue: Zwischen dem Glanz der grossen Städte und der aufgeräumten, ruhigen Atmosphäre intakter Dörfer ducken sich heruntergekommene Nester mit schiefen Zäunen, farblosen Häusern und kaputten Dächern.
Der Zug ruckt an und reisst mich aus den Gedanken. Ein Kaffee wäre jetzt gut, Zugfahren strengt an. Im Speisewagen sitzt, die Beine lang von sich gestreckt, ein Schrank von einem Mann, vielleicht fünfzig. Er unterhält sich mit der Kellnerin und dies mit Gesten und Tonfall eines Mannes, der sich seiner sicher ist. Einer, der die unberechenbaren Wogen des Lebens einfach deswegen mag, weil sie an ihm zerschellen. Es ist kurz nach Mittag, er trinkt Bier. Bestellungen bekomme ich auf Russisch flüssig über die Lippen, aber er hört sofort, dass ich Ausländer bin, und stellt sich mir vor. Er, Sergej, komme aus Nishni Nowgorod und sei auf Geschäftsreise. Sergej besteht darauf, dass ich mit ihm etwas trinke. Flirtend bestellt er bei der blondierten Bedienung Wodka.
Wir trinken auf die Freundschaft, die Frauen und auf uns. Kaum hat sich der Wodka in unseren Körpern verteilt, stellt sich ein Gefühl von Gemütlichkeit ein. Vor lauter kollektiver Rührung bestellen wir noch eine Runde. «Sto gramm», also hundert Gramm Wodka, ist eine ehrliche Menge, und Wodka ist ein ehrliches Getränk. Ich frage Sergej, womit er sein Geld verdiene. Mit allem Möglichen, antwortet er, zum Beispiel mit Handys. In Deutschland war er auch schon. Autos kaufen. Diese brachte er nach Nishni Nowgorod und verkaufte sie. Offiziell arbeitet er aber noch für die Stadt, damit er krankenversichert bleibt. Sergej lacht über mein angestrengt wirkendes Gesicht. Wenn ich ihn richtig verstehe, erzählt er mir gerade, wie wichtig eine unverkrampfte Einstellung zu Schwarzarbeit und anderen halb legalen und illegalen Geschäften ist. Sergej sagt, «Legal oder illegal ist scheissegal. Was du hier brauchst, ist Mut und», er wird ernst: «Glück!» Dann winkt er der Kellnerin. «Noch zwei Wodka, Devushka!»
Langsam zieht der Zug durch die weite Landschaft. Sie strahlt Kraft und Ruhe aus. Für die meisten Reisenden gibt es nichts, was sie auf der langen Fahrt nach Osten unbedingt erledigen müssten. Niemand ist erreichbar – das Mobilfunknetz funktioniert nur in grösseren Ortschaften, und die sind selten. Alle haben Zeit. Nüchternheit und Ausgelassenheit, Neugierde und Desinteresse liegen im Zug sehr nah beieinander. Die Stimmung steht und fällt mit den Mitreisenden. Die Russen sind grosszügig, das mitgebrachte Essen und Trinken wird gerne geteilt.
Am einfachsten schliesst man Freundschaften in der 2. Klasse, die Intimität eines Abteils macht es einfacher. Die Zeiten sind vorbei, als die Leute glaubten, der Kontakt zu Ausländern bedeute auch eine Chance, in die reiche westliche Welt zu kommen. Mit dieser Idealisierung ist es spätestens seit der Jahrtausendwende vorbei. Der Westen hat an Glanz verloren. In Russland wird der Reisende trotzdem noch häufig als Gast und nicht nur als Tourist wahrgenommen.
Das Zubettgehen ist unspektakulär. Im Zug tragen sowieso alle Trainingshose und T-Shirt. Einfacher ist es für jene, die oben schlafen, denn diese müssen niemanden bitten, die untere Sitzbank zu verlassen, wenn sie schlafen möchten. Es geht ruhig und rücksichtsvoll zu auf der Reise Richtung Osten. Ich lausche dem Rattern der Räder. Das Klick-Klack der Schienenstösse bringt mich schnell in den Schlaf.
Der Zug erreicht Irkutsk, das «Tor zum Baikalsee». Der See ist das grösste, sauberste und tiefste Süsswasserreservoir der Erde. Ich mache hier einen Zwischenhalt. Irkutsk ist eine der schöneren Städte Sibiriens und hat Charme. Es gibt enge Gassen, viele alte, wenn auch etwas mitgenommene, mit reichlich Schnitzereien verzierte Holzhäuser, solide Kaufmannshäuser aus dem vorletzten Jahrhundert und auch hier wieder Frauenbeine, die auf hohen Stilettos absolut sicher auf den löchrigen Strassen der Stadt unterwegs sind. Zahlreiche Sonnenscheintage, der breite Strom Angara, ein reiches Nachtleben bietet die Stadt ausserdem.
Irkutsk war schon im 17. Jahrhundert ein wichtiger Handelsplatz für Tee und Seide aus China und für Pelze aus Sibirien. Das alte Irkutsk machte seine Händler reich. In der Karl-Marx-Strasse stehen die prächtigen Häuser wie Denkmäler für den einstigen Reichtum. Sie stammen aus der Zeit, als Marx sich gerade darüber Gedanken machte, wie man Besitz gerechter verteilen könnte. Lenin, der versuchte, dessen Ideen umzusetzen, und scheiterte, reckt mitten im Zentrum noch immer triumphierend seinen Arm in die Luft.
Es herrscht Sommer in Irkutsk, das Thermometer zeigt 30°C im Schatten. Als erstes möchte ich nach Olchon, der grössten Insel des Baikalsees. Die extravagante Landschaft aus Steilküste, Sandstränden, Steppe und Lärchenwald verspricht grossartige Naturerlebnisse in der Weite und Stille Sibiriens. Wladiwostok muss vorerst noch etwas warten…
Über den Autor
Holger Fritzsche, ist im real existierenden Sozialismus aufgewachsen und reiste aus Abenteuerlust schon zu Zeiten der Sowjetunion in den grössten Flächenstaat der Welt – illegal, nach dem Motto: «Unerkannt durch Freundesland». Nach der Implosion der DDR fuhr er mit dem Motorrad u.a. durch Afrika und Australien, bevor er sich wieder intensiver Russland zuwandte. Holger Fritzsche ist Mitglied der «Gesellschaft für Bild und Vortrag» und der Bildagentur «Imagebroker». Mit seinen Live-Reportagen ist er bei allen grossen Veranstaltern im deutschsprachigen Raum zu Gast. Sein Buch «Wodka, Weite, Abenteuer – Unterwegs mit der Transsib» ist bei National Geographic erschienen.
Wie geht das Russlandabenteuer weiter?
Mit einem alten Lada und einem seltsamen Fahrgast fährt Holger Fritzsche durchs ländliche Russland, Ziel: Besteigung des Mount Elbrus und erster Gleitschirm-Tandemflug von dessen Gipfel. Ob es gelingt, und wie er sich für die allgegenwärtige Gastfreundschaft revanchieren kann, ist nachzulesen in der Ausgabe Nr. 123 des Globetrotter-Magazins.