Moderne Nomaden
Zwei Jahre leben sie im selbst ausgebauten Campervan und reisen durch Europa. Ronny Arnold und seine Frau Xenia sind heute hier und morgen dort. Es sind die Begegnungen am Strassenrand, die ihr Vanlife-Abenteuer unvergesslich machen und Stoff für Geschichten liefern.
Ausgabe: 147 Text und Bilder: Ronny Arnold
Nach acht Jahren lassen wir das turbulente Zürcher Stadtleben hinter uns, verabschieden uns von unserer Altbauwohnung im Niederdorf und fahren mit unserem Haus davon. Unser Haus heisst Elsa, ist ein 1987er-Mercedes-Benz und mithilfe von Freunden zum Wohnmobil ausgebaut worden. Entstanden ist eine sechs Quadratmeter kleine Wohnung auf vier Rädern mit weiss getäferten Holzwänden und einer Ikea-Küche. Unterwegs sind wir mit einer maximalen Reisegeschwindigkeit von 85 Kilometern pro Stunde.
Bevor wir losfahren, trennen sich meine Frau Xenia und ich von materiellen Dingen. Alles, was im letzten Monat nicht verwendet wurde, wird aussortiert. Natürlich mit Ausnahmen: Nebst einem T-Shirt braucht man irgendwann auch eine Winterjacke. Kleider haben wir deshalb für jede Jahreszeit eingepackt. Meine Plattensammlung konnte ich weder mitnehmen noch wegwerfen, deshalb schmunzelt jetzt wohl mein Vater über diese Zeilen, während im Hintergrund «Locomotive Breath» von Jethro Tull ab Vinyl läuft.
Murphys Gesetz
Alle kennen die Annahme, dass alles, was schiefgehen kann, auch schiefgehen wird. Just als wir 2021 in unser rollendes Zuhause ziehen, geht es wettertechnisch bergab: Wir erleben den kältesten April seit 20 Jahren, den nassesten Mai seit 100 Jahren, den kältesten Frühling seit 30 Jahren und schliesslich den nassesten Sommer seit Messbeginn.
Nach diesem Kaltstart und einer schönen Zeit in Österreich und Italien entscheiden wir uns Anfang November, mit der Fähre nach Griechenland überzusetzen. Während einer Pandemie, die vielerorts einen Abstand von zwei Metern verlangt, ist ein spontanes Kennenlernen von Reisenden oder Einheimischen selten. Trotzdem geniessen wir unsere Zeit auf der Halbinsel von Peloponnes ohne Gefühl der Einsamkeit. Fast täglich erkunden wir die Küstenstrassen, die meiner Meinung nach den Highway 1 in den USA locker in den Schatten stellen.
Mitte Dezember wird es uns zu kalt, und wir verlassen die griechische Halbinsel in Richtung Kreta. Auf Social Media freunden wir uns mit einem jungen deutschen Paar an, das ebenfalls mit dem Van auf Kreta unterwegs ist. Wir verabreden uns am berühmten Strand von Elafonisi, der für seinen pinkfarbenen Sand bekannt ist.
Genau da, wo sich zur Hochsaison Abertausende von Touristen in der Sonne baden, treffen wir Marc und Lina. Es ist für uns die erste Begegnung auf so engem Raum, und mir wird so richtig bewusst, wie selten solche Begegnungen in den vergangenen zwei Jahren pandemiebedingt geworden sind. Der Abend zieht sich in die Länge, die Gespräche werden philosophisch, und ich merke, wie sehr ich solche Momente ausserhalb der Zweisamkeit vermisst habe.
Marc und Lina heizen ihren Van auf gemütliche 20 Grad hoch, und wir zwei ahnen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass Murphys Gesetz wieder seine Fäden ziehen wird. Am nächsten Morgen beginnt das Chaos. Schneefall sorgt in Athen für Verkehrschaos, Schulen schwenken auf Onlineunterricht um, und in den sozialen Medien posten Menschen Bilder des aussergewöhnlichen Schnee-Ereignisses. Derweil suchen Meteorologen historische Vergleiche, manche mutmassen, es könnte der stärkste Schneefall seit dem Jahr 1934 sein. Wenn man bedenkt, dass in Griechenland keine Winterreifenpflicht herrscht, will man sich das Chaos auf den Autobahnen gar nicht erst vorstellen.
Und auch bei uns auf Kreta schneit und hagelt es, und der pinke Strand verfärbt sich weiss vom Schnee – ein Spektakel, das wohl nur wenige Menschen jemals erleben dürfen. Uns haut so etwas nicht mehr so schnell aus den Wollsocken. Wir kennen Murphys Gesetz inzwischen gut.
Sassi und Bond
Eine andere unvergessliche Begegnung machen wir in Apulien im südlichen Italien. In der Nähe der Stadt Matera fahren wir spätabends auf einen Stellplatz. Matera ist berühmt für seine Sassi. Diese in Stein gehauenen Höhlenwohnungen waren bereits in der Jungsteinzeit besiedelt. Die Sassi von Matera wurden in den 1960er-Jahren geräumt, weil die hygienischen Zustände zu Malaria und anderen Krankheiten sowie zu einer hohen Kindersterblichkeit geführt hatten. Rund 30 000 Bewohner wurden damals in die neugebauten Sozialwohnungen umgesiedelt.
Die Sassi wurden restauriert, und es entstanden Museen, Restaurants, Boutiquehotels und Künstlerwerkstätten. Heute zählen sie zum UNESCO-Welterbe. Sie bleiben mir in Erinnerung, genauso wie James Bonds Aston Martin DB5, der im neusten Film – leider nicht ohne Blechschaden – die engen Gassen von Matera hinunterrast.
Zurück zu unserer Kulisse: Auf einem ausgebreiteten Teppich döst Thanos vor sich hin. Der griechische Strassenhund ist seit Januar unser treuer Begleiter. Er erträgt die Hitze nicht so gut, wie man dies aufgrund seiner Herkunft vermuten würde.
Plötzlich fragt mich jemand: «Hey, how are you? Is he friendly?» Es ist Mark, der sein fahrendes Zuhause – einen steinalten Volvo-N10-Militärlastwagen Marke Selbstausbau – nur ein paar Meter neben uns abgestellt hat. Xenia erzählt ihm von unseren Reiseplänen für Grossbritannien. Und schon bald sitzen wir mit Mark und dessen Frau Jackie bei einer Tasse Tee zusammen. Die beiden reisen seit bald drei Jahren mit ihren vier Hunden durch Europa und geniessen das Leben als Frührentner.
Wie geht die Geschichte weiter?
Mark und Jackie erzählen ihre Geschichte und der Autor darf ihren fahrenden Wohntraum von innen besichtigen. Die Geschichte springt weiter nach Schottland, wo die beiden nach bald einem Jahr und mehr als 30 000 Kilometer ihre erste Panne erleben. Natürlich läuft auch hier wieder alles nach Murphys Gesetzt, doch bei allem Unglück haben sie das Glück, einen pensionierten Jockey und ein wahres Original kennenzulernen. Wieder ist es der echte Kontakt mit Menschen, der die Entdeckungsreise der modernen Nomaden bereichert.
Über den Autor
Ronny Arnold (33) ist Heilpädagoge und Hobbyfotograf. Er und seine Frau Xenia (33) und Strassenhund Thanos wohnten über zwei Jahre im selbst ausgebauten Van und reisten während dieser Zeit durch Europa. Seit Juli leben die drei in Flüelen im Kanton Uri und geniessen von ihrer Wohnung aus den Blick über den Urnersee.