Von der Seidenstrasse bis zum Mars
Mit der Reise nach Zentralasien erfüllt sich Bernadette Olderdissen einen Wunsch. Samarkand und Buchara an der Seidenstrasse bekommen ein Gesicht, und ein Zwischenstopp in Kasachstans Hauptstadt Astana führt ins tiefste Absurdistan. Doch das Beste kommt zum Schluss: Im wilden Westen Kasachstans findet unsere Autorin ebenso schwer zugängliche wie ausserirdisch anmutende Landschaften.
Ausgabe: 151 Text und Bilder: Bernadette Olderdissen
Die besten Reisen sind wie das Leben – sie beginnen bei A, der Reisende hat eine Ahnung, wo B und C liegen, aber der Weg dorthin ist ein Mysterium. Genauso geht es mir – unausgeschlafen – um neun Uhr morgens am Flughafen der usbekischen Hauptstadt Taschkent. «Taxi, Miss? Good price!» Ich kenne die guten Preise von Flughafentaxis. «Samarkand, Sammeltaxi, 50 Dollar!»
Tatsächlich ist Samarkand mein erstes Ziel, eine der ältesten Städte der Welt und eine der schönsten an der früheren Seidenstrasse. Ich handle den Preis auf 25 Dollar runter – für gut 300 Kilometer und vier bis fünf Stunden Fahrt. Das Sammeltaxi steht bereit, und auf dem Rücksitz sitzt eine ältere Dame, die ich in bescheidenem Russisch begrüsse. Sie antwortet in fliessendem Englisch: «Du kannst mich Sarah nennen. Ich lebe seit über 20 Jahren in den USA, aber jetzt bin ich bei meiner Tochter zu Besuch.» Sarah, usbekisch Sayyora, ist 70 Jahre alt und arbeitet in den Staaten als Pflegerin. Scherzod, unser hagerer Fahrer, springt hinters Steuer. Die Reise beginnt.
Grosses Kino
Dort, wo Karawanen nicht nur Seide, sondern auch Glas, Edelsteine, Gold, Keramik, Porzellan, Pelze und weitere Waren durch Asien transportierten, sind wir mit 180 Stundenkilometern unterwegs – erlaubt wären 80. Sarah lehnt entspannt an meinem Koffer, während Scherzod die löchrige Landstrasse in eine Formel-1-Piste verwandelt. Mein Fuss tastet instinktiv nach einem Bremspedal, wenn er auf den Vordermann auffährt, bis sich die Stossstangen um ein Haar berühren.
Am Mittag dirigiert Sarah den usbekischen Schumi zu einem Strassenrestaurant. Zum riesigen Teller frittierten Fisch gibt es hausgemachte Tomatensauce, frisches Pide – das typisch runde Brot – und Tomaten-Gurken-Salat. Als nur noch Gräten auf dem Teller liegen, wird gebetet. «Wir danken Gott erst nach dem Essen für die guten Speisen und alles, was er für uns und unsere Toten tut», erklärt Sarah. Dann geht die Höllenfahrt weiter, und irgendwann kommen wir in Samarkand an. Sarah will dort ein paar Tage bei einer Freundin verbringen, nimmt mir aber das Versprechen ab, sie und ihre Familie später in Taschkent zu besuchen.
Als «schönstes Antlitz, das die Erde der Sonne je zugewandt hat» wurde Samarkand einst beschrieben. Ich habe den besten Spot ergattert, oben auf den Treppen, und vor mir läuft grosses Kino: Bei Einbruch der Dunkelheit gehen sämtliche Lichter an und kleiden den Registan – den vielleicht schönsten Platz Zentralasiens – mit seinen Medresen, den Koranschulen, in schummrig gelbes Licht. Der Platz dient als Hotspot für Fotoshootings von Brautpaaren. Ich sehe eine Braut in türkis gemustertem Kleid mit meterlanger Schleppe, der Bräutigam in gestreiftem Bademantel mit Bollerhose und Gummistiefeln. Da scheint sogar die alte Frau, die sich an mich schmiegt und sich mit mir ablichten lässt, in ihrem bunt gemusterten Kleid schicker.
Aus dem Souk strömt ein Duft von Gewürzen. Hinter dem Basar erhebt sich in der Ferne die Totenstadt Shah-i-Zinda mit den türkisfarbenen Kuppeln der Mausoleen: das Beste der Mausoleenbaukunst Samarkands. Kunst anderer Art widmet sich der 1992 eröffnete Samarkand-Buchara-Teppich-Workshop, der während der Sowjetzeit fast verlorene Traditionen wiederaufleben lassen will. Ich treffe die Tochter des Gründers. «Insgesamt haben wir etwa 400 Mitarbeiterinnen, alle über 18 Jahre alt», erklärt Khalida. An den Webstühlen gleiten hauchdünne Seidenfäden durch die Finger der Frauen, Knötchen entstehen, von denen Tausende einen Teppich ergeben – nach etwa einem Jahr Arbeit.
Schmuckstücke
Online habe ich Zugtickets gebucht und werde nach Vorzeigen von Reisepass und Ticket in den Bahnhof von Samarkand eingelassen. In die Oasenstadt Buchara verkehrt der topmoderne Afrosyiob, der staatliche Hochgeschwindigkeitszug. Jeder voll klimatisierte Waggon verfügt über einen eigenen Zugbegleiter, der an der Tür die Tickets kontrolliert. In eineinhalb Stunden gehts mit 250 Stundenkilometern in die Stadt Buchara, die als kulturelles Zentrum des Ostens gilt.
Viele Wege in der Stadt führen durch labyrinthgleiche Gassen, wo Menschen in einfachen Lehmhäusern wohnen. Kinder kicken einen Ball über den getrockneten Schlamm, Männer spielen Schach, und aus einer Bäckerei strömt der Duft nach Pide. Einen Verkaufstresen suche ich vergeblich. Ich folge stattdessen der Hitze in eine Kammer, wo zwei verschwitzte Männer wie besessen Teig kneten. «Wir schaffen etwa 800 Brote am Tag», erzählen sie.
Das Herz der Altstadt schlägt wenige Hundert Meter weiter beim Poi-Kalon-Komplex mit dem Kalon-Minarett – dem Wahrzeichen Bucharas mit der Mir-Arab-Medrese und der Kalon-Moschee. Auch in Buchara gibts einen Registanplatz, an dem die Ark-Zitadelle, ein klotziger Lehmziegelbau, steht.
Neue Stadt
Zurück nach Taschkent gehts im Sharq, Usbekistans Intercityzug. Statt geräumiger Grossraumwagen gibts stickige Abteile, in denen die Fenster nicht aufgehen, dafür die Korridore und Abteile mit Teppichen ausgelegt sind.
Waren Samarkand und Buchara ein Streifzug durch die Vergangenheit, ist in Taschkent alles neu. Die alte Stadt wurde 1966 bei einem Erdbeben zerstört und dann im Sowjetstil neu aufgebaut. Heute ist die Hauptstadt Usbekistans mit ihren gut vier Millionen Einwohnern die grösste Stadt Zentralasiens. Ich hätte fast Lust, hier den ganzen Tag mit der U-Bahn unterwegs zu sein, denn sie besitzt einige der schönsten Metrostationen der Welt. «Im Jahr 1977 öffnete hier die erste U-Bahn-Linie Zentralasiens nach dem Vorbild der Moskauer Metro», erzählt die Stadtführerin.
Irgendwann treibt mich der Hunger dennoch unter der Erde hervor. Und ich schlage im Plov Center beim Fernsehturm zu. Hier wird Usbekistans Nationalgericht jeden Mittag in rauen Mengen gekocht – etwa 50 Kilo Reis kommen in einen überdimensionalen Pott, dazu eine Unmenge Rindfleisch, Pferdewurst, Rosinen und gelbe Möhren.
Wenn ich an Taschkent zurückdenke, denke ich jedoch nicht an Monumente oder U-Bahn-Stationen. Ich denke an Sarah und an unseren gemeinsamen Abend. Die 70-Jährige und ihre Tochter Rano stehen vor ihrem Haus an der Strasse und Sarah umarmt mich wie eine endlich heimgekehrte Enkelin. Schon werde ich der Familie vorgestellt – Schwiegersohn Davronbek, den Enkeln Jasurbek und Najimbek sowie der Enkelin, Kamila. Am grossen Tisch im Wohnzimmer ist die Tafel voller trockener Früchte, Brot, Saft und Schnaps gerichtet, als Hauptgericht gibt es Plov. Zum Zweiten. Alle ausser Davronbek sprechen fliessend Englisch, Fragen prasseln auf mich ein. Wir plaudern, ich komme kaum zum Essen, doch mein Teller füllt sich nach jedem Bissen aufs Neue.
Moderne
«Back to the future» könnte das Motto der kasachischen Hauptstadt Astana lauten. Ich lege hier auf dem Weg in den Westen Kasachstans einen Stopp ein. Im März 2019 wurde die Stadt zu Ehren des langjährigen Präsidenten Nursultan Nasarbajew in Nur-Sultan umbenannt, seit Herbst 2022 heisst sie wieder Astana. Die Stadt sieht aus, als hätte dort ein aus der Zwangsweste entkommener Architekt seine Freiheitsfantasien zum Besten gegeben: Pyramiden wechseln sich ab mit Vulkantrichtern aus Marmor, Tempel kleben auf Hausdächern, es gibt Kaufhäuser in Form von Staubwedeln, und über dem Ganzen erhebt sich der 100 Meter hohe Bajterek-Turm mit goldener Kugel, das Wahrzeichen der Stadt.
Imposant und wunderschön ist die 2012 eröffnete Hazrat-Sultan-Moschee, eine der grössten Zentralasiens. Obwohl über eine Million Menschen in Astana leben, sind kaum welche auf der Strasse zu sehen. Selbst der Unabhängigkeitsplatz mit seiner 91 Meter hohen Säule als Hinweis auf die Unabhängigkeit Kasachstans 1991 wirkt verlassen.
Nach wenigen Stunden bin ich bereit für nicht minder bizarre Erscheinungen, dafür aber naturgemachte: Meine Reise geht weiter in den fernen Westen Kasachstans, in den Verwaltungsbezirk von Mangghystau am Kaspischen Meer.
Tiramisu
Bei der Reiseplanung bin ich per Zufall auf ein Foto gestossen, das die enormen Kalkkathedralen Bozhiras im Ustyurt-Naturreservat zeigte. Da wollte ich hin. Erste Recherchen brachten Ernüchterung, denn die Region ist so wild, dass sie nur geübte Geländewagenabenteurer allein befahren oder Touristen, die sich die wenigen Touren ab 1400 Euro aufwärts leisten können. Doch so schnell gab ich nicht auf, schrieb Guides über die Website Indyguides an und hatte Glück: Sergey hatte bereits ein paar Leute zusammen und bot mir an, zum vergünstigten Preis mitzufahren.
So bekomme ich an einem frischen Septembermorgen in Aktau eine Antwort darauf, welche Menschen sich in diese Wildnis verirren: Maggie und Axel aus Düsseldorf, 69 und 78, die schon fast die ganze Welt gesehen haben, mit ihrem russischen Guide Boris. Dazu drei Russinnen, Oma Valentina, Tochter Viktoria und Enkelin Veronika. Mit den dreien und Fahrer Georgi sitze ich in einem Wagen, und wir feiern Viktorias 55. Geburtstag. «Meine Mutter hat früher in Aktau gelebt, ich bis zu meinem fünften Lebensjahr auch», erzählt sie. Ihr Geburtstag sei der Anlass, in diesen Teil der Welt zurückzukehren. Zwischen Valentinas Beinen klemmt ein grosser Korb. Ich teile mit den anderen beiden Frauen den Rücksitz.
Wie geht die Geschichte weiter?
Die Autorin fährt ins Ustyurt-Naturreservat und sieht die Tiramisuberge endlich mit eigenen Augen. Sie findet Fossilien, da hier einst das Tethysmeer war und sie erlebt ein Gewitter, das sie zwingt, ihren Lagerplatz umgehend zu verlassen. Ob sie es noch schafft, die Kalkkathedralen von Bozhira zu sehen?
Über die Autorin
Bernadette Olderdissen (43) wurde im Rheinland geboren, lebt jedoch mittlerweile zwischen ihren Wahlheimaten Hamburg und Schwedisch Lappland. Nachdem sie als freie Reiseautorin ein Jahr in Nordschweden verbracht hat, um ihr Buch «Zwischen ewigem Sommer und tiefster Nacht» zu schreiben, lässt sie die Arktis nicht mehr los. Und doch zieht sie auch immer wieder hinaus in die weite Welt. Die Flüge nach Kasachstan und Aktau wurden von Air Astana gesponsert.
Das Video zur Geschichte kannst du jetzt bei Triplana angucken.