Mit dem Motorrad durch Kalifornien, Utah, Colorado, Nevada und Arizona
San Francisco, Las Vegas, Grand Canyon: Auch wer nie dort war, hat eine Vorstellung davon, wie es an den Hotspots der Vereinigten Staaten aussieht. Dirk Schäfer fährt mit seinem Motorrad durch den Westen des Landes, um nach dem zu suchen, was sich abseits der ausgetretenen Pfade tut.
Ausgabe: 144 Text und Bilder: Dirk Schäfer
Die USA sind ein Allerweltsziel. Städtetrips nach New York und San Francisco, Wohnmobilreisen durch die berühmten Nationalparks. Und die Bikerfreunde cruisen auf der Route 66. Aber mal ehrlich: Das solls schon gewesen sein? Dazwischen muss doch jede Menge Land liegen, das sich dem allgemeinen touristischen Blick entzieht. Aber wie findet man diese Gegenden? Wer auf ein nächtliches Satellitenbild der USA schaut, sieht viele Regionen hell erleuchtet. Für den Südwesten, zwischen der Pazifikküste und den Rocky Mountains, gilt das nicht. Nur wenige Lichter stören die nächtliche Ruhe. Grosse Städte: Fehlanzeige. Pisten: reichlich. Einsamkeit: höchstwahrscheinlich.
Mit Reisen ist es wie mit einem Menü: Man beginnt nicht mit dem Dessert oder der Hauptspeise, sondern mit einer Vorspeise, einem geschmeidigen Einstieg. Meiner ist der Yosemite-Nationalpark und darin die legendäre Glacier Road. Aus dem üppig grünen Tal des Merced River windet sie sich bis zu einer natürlichen Kanzel weit über dem Fluss. Exakt gegenüber auf der anderen Talseite ragt die Felsikone Halfdome in den Himmel. Jetzt, im späten Nachmittagslicht, glimmt die Sonne noch einmal wie schmelzender Stahl, um dann samt ihrem Feuer zu erlöschen. Zeit, Stativ und Kamera auszupacken, um der Vergänglichkeit des Moments die Halbwertzeit einer Speicherkarte entgegenzusetzen.
«Es wäre gut, wenn Sie so langsam den Rückweg anträten.» Leicht erschrocken drehe ich mich um. Den Ranger hinter mir hatte ich im Sonnenuntergang-Fotowahn überhaupt nicht bemerkt. «Wieso? Stimmt was nicht?», frage ich. «Wir schliessen die Strasse gleich. Wintersperre!», sagt er. «Ich dachte, eine Wintersperre gibt es erst, wenn es schneit», entgegne ich. Er: «Richtig. Und morgen wird es schneien!» Etwas kühl ist es tatsächlich geworden, um nicht zu sagen kalt. Der allwissende Bordcomputer meiner BMW R1200GS behauptet etwas von minus 2 Grad Celsius. Mit einer gewissen Dankbarkeit knipse ich die Griffheizung an und schwenke leicht fröstelnd zurück ins Merced-River-Tal. Mit der Morgensonne wirds schon wieder wärmer werden.
Schnee- und Schottersorge
Es wird nicht wärmer. Vorerst nur schlechter: «Tioga-Pass Road closed!» – Die gleichen Tafeln, die mir gestern noch eine ungehinderte Passage über die Sierra Nevada versprachen, haben es sich über Nacht anders überlegt. Der nächste Pass über die Berge liegt weit im Süden: der Sherman-Pass unweit der gigantischen Sequoiabäume. Seine Westseite soll asphaltiert, aber die Ostflanke geschottert sein. Mein Motorrad rollt auf Strassenreifen.
Die Schnee- und Schottersorge entpuppt sich als unbegründet, denn erstens ist der einsame Sherman-Pass noch schneefrei und zweitens wie ein Smoothie geteert. Unterwegs ist kein anderes Fahrzeug, keine Menschenseele zu sehen. Willkommen im Lonesome-Cowboy-Land! Gleich um die Ecke, in den Alabama Hills, wurden tatsächlich Western gedreht. Heute ist die Gegend zwischen den Hills und dem Death Valley das Refugium von Querköpfen und Aussteigern. Beispiel gefällig?
Craig wohnt in einer Hüttensiedlung namens Keeler. Zottelhaare, Zottelhaus, Zottelfahrzeuge. Alles, was Räder hat, versieht Craig mit einem Motor. In ein dreirädriges Einkaufsfahrrad hat er jüngst einen Rasenmähermotor eingebaut. «Fährt gut Tempo 60. Nur die Rahmenkonstruktion macht nicht richtig mit», sagt er. Grinst in seinen Zottelbart und macht sich ans Vergasertuning einer indischen Rikscha. «Du solltest hoch nach Cerro Gordo fahren», empfiehlt Craig. «Robert hat da oben schon lange niemanden mehr zu Gesicht bekommen.»
Kleine Canyons, softe Serpentinen, alpine Anstiege: Die Piste hinauf nach Cerro Gordo bringt die Sinne auf Vordermann. Auf der Passhöhe sind die Ruinen einer Minensiedlung gut erhalten. Robert, gepflegter Graubart, kariertes Hemd und Basecap, hat mich schon kommen hören. Er wohnt hier seit Jahren als Einziger. Mit seinen 70 Jahren, sagt er, sei er zu alt, um nochmal woanders hinzugehen. «Ich schreibe jetzt noch ein Buch. Nicht über mich, sondern über diese Stadt. Ich fürchte, wenn ich weg bin, wird auch Cerro Gordo weg sein. Da soll wenigstens das Buch bleiben.» Robert, der Letzte seiner Art, weiss, dass er hier in der Einsamkeit seine letzte Stunde erleben wird. «Erzähl deinen Freunden zu Hause von diesem Ort», bittet er mit einem ehrlichen Lachen. «Die mögen vorbeikommen, solange es das hier noch gibt.» Versprochen!
Gefrierpunkt
Irgendetwas knistert am Zelt. Raschelt. Oh Mann! Es ist noch stockdunkel, und ich will einfach nur schlafen. Aber das nervige Geraschel geht weiter. Bald bin ich hellwach, und gerne würde ich den Störenfried verjagen. Aber dazu müsste ich raus aus dem Schlafsack, raus in die Kälte. Es wird nur knapp über dem Gefrierpunkt sein. November am Grand Canyon. Und allzu hektisch sollte ich meine temporäre Behausung auch nicht verlassen. Nur ein paar Meter weiter geht es abwärts. Fast 1000 Meter tief. Im Fall des Falles sollte das ausreichen, um vor dem Aufprall zu realisieren, dass man wegen des Geraschels besser nicht wutentbrannt aus dem Zelt hätte stürzen sollen.
Nur ganz betulich geht die Sonne auf, lässt den Talboden des Grand Canyon noch lange in undurchdringlichem Schwarz. Dort, wo ihre Strahlen schon hingelangen, leuchten Präriebüsche und Hügelketten in trügerischem, Wärme suggerierenden Orange auf. Mit eisigen Fingern packe ich meine Siebensachen auf das Motorrad. Ich bin an der engsten Stelle des Grand Canyon, weit ab von den touristischen Hotspots. 100 Kilometer Piste trennen mich vom nächsten Asphalt. Nochmal 30 vom warmen Frühstück in der Kanab Creek Bakery von Marjorie Casse. Die gebürtige Belgierin hat im überschaubaren Kanab ein französisches Café eröffnet. Wenn das keine Verheissung ist!
Die Piste gibt sich erst ruppig, dann glatt, und die BMW bügelt mit meinem leeren Magen nur so dahin. Kaum zu glauben, dass ich seit zwei Tagen am Grand Canyon bin und nicht eine Menschenseele zu Gesicht bekommen habe. Ausser Marjorie natürlich. Wenn sie sich nicht um ihr Café kümmert, arbeitet sie als freiwillige Rangerin im Nordteil des Grand Canyon. Kein Handyempfang, keine Verpflegung, keine Sanitäreinrichtungen. Nichts. Mal abgesehen von der Respekt einflös-senden Natur und einer selten gewordenen Einsamkeit. Was bringt jemanden dazu, dieses harsche Leben dauerhaft leben zu wollen?
Im Death Valley, knapp 600 Kilometer weiter westlich, hatte ich eine ähnlich motivierte Frau getroffen. Von der Hauptroute durch das hitzige Tal des Todes war ich auf die bockige Piste zu den Moving Rocks abgebogen. Überall grosse Steine, spitze Felsen. Nicht das Terrain, über das man eine vollbeladene Zwölfhunderter treiben will. Aber für ein Wunder wie die wandernden Steine wollte ich die Anstrengung gepaart mit einem Quantum Risiko auf jeden Fall auf mich nehmen.
Die Quittung bekam ich schnell: Die Piste liess selten mehr als den zweiten Gang zu, und mir ging irgendwann der Schweiss aus. Aber die Motivation blieb. Und die wurde mit einem phänomenalen Blick über die Ebene mit den Moving Rocks belohnt. Unter uns: Wer hätte sich im Rausch des gerade Vollbrachten nicht auf die innere Schulter geklopft? War ja ohnehin niemand da, der dem Moment der Selbstzufriedenheit beiwohnte. Oder doch?
Wie geht die Geschichte weiter?
Dirk trifft eine 80-jährige Dame im Death Valley, die ihm eine Lektion fürs Leben lehrt, fährt mit der Vision eines VW-Bullis vor spektakulärer Landschaft zum Lake Powell, kurvt mit seinem Bike über die sandigen Trails im Arches-Nationalpark in Utah und trifft Doc wieder, einen alten Blues-Bekannten, der für den passenden Soundtrack sorgt.
Über den Autor
Dirk Schäfer (58) lebt in Essen und ist seit seinem 20. Lebensjahr mit dem Motorrad unterwegs. Seine Reisestorys, Fotos und Filme werden international veröffentlicht. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit ist er für Reportagen unterwegs. Häufig auch mit seiner langjährigen Lebensgefährtin.