Staub, Sterne und ewige Sehnsucht
Sabine Hoppe und Thomas Rahn fahren in einem siebeneinhalb Tonnen schweren Oldtimer-Lastwagen quer durch Europa, Asien, Afrika, Nord- und Südamerika. Nach sechs Jahren ist ihre Reise grösser, länger und weiter, als sie es sich je hätten vorstellen können.
Ausgabe: 152 Text: Thomas Rahn und Bilder: Sabine Hoppe und Thomas Rahn
Wirklich? Das soll es sein, das tolle, freie Leben auf Reisen? Ist es das, wovon wir geträumt haben? Sabine kippt schlammiges Wasser aus ihrem Schuh, ich lehne im Nieselregen an der Stossstange unseres Oldtimer-Reisemobils. Was wir gerade tun, erscheint mir doch ziemlich unsinnig. Vor vier Wochen sind wir in dieses neue Leben aufgebrochen. Ein Leben in einer mobilen Behausung namens Paula, einem knuffig runden Oldtimer-Lastwagen, der zum Wohnmobil ausgebaut ist. Elf Quadratmeter gross, Küche, Bett, Bad. Siebeneinhalb Tonnen schwer, ebenso laut wie langsam, aber angeblich geländegängig. Das sollte der Mercedes «Kurzhauber LA911b» auch sein, denn vor uns liegt die ganze Welt.
Harziger Start.
Nach dem Studium sind meine Partnerin Sabine und ich aus unseren WG-Zimmern direkt in Paula gezogen, haben uns von Familie und Freunden auf unbestimmte Zeit verabschiedet. Doch statt traumhafter Stellplätze in unberührter Natur und des Gefühls der grossen Freiheit ist es erst einmal eines: anstrengend und unbequem. War das alles nur eine völlig verrückte Idee? Sollten wir das besser jetzt als später einsehen und umdrehen?
Solange ich denken konnte, hatte ich mir in den Kopf gesetzt, einmal um die Welt zu fahren. Über 20 Jahre hatte ich für diesen Traum gespart. Nein, so schnell lassen wir uns nicht entmutigen. Hätten wir an jenem kalten Novembertag in Ungarn aufgegeben, als wir auf der Suche nach einem Übernachtungsplatz auf einer sumpfigen Wiese endeten, wäre all das, was in den folgenden sechs Jahren geschah, nie passiert.
«Kommt mit, es gibt Tee!», gibt uns ein älterer Mann mit einem Lächeln pantomimisch zu verstehen, als er mit seinem Gewehr in der Hand vor uns steht. Mittlerweile irren wir nicht mehr über abgelegene Feldwege Osteuropas, sondern auf ebenso abgelegenen Pfaden durch den Osten der Türkei. Aus der Einladung zum Tee wird ein Abendessen, und obwohl wir keine gemeinsame Sprache sprechen, unterhalten wir uns prächtig. Vielleicht verstehen wir nicht jeden Satz, jede Geschichte ganz genau, aber eines ist unmissverständlich zu spüren: Wir sind willkommen in dem selbst gebauten Häuschen aus grob behauenen Steinen, das Ismael und seine Frau mitten im Nirgendwo Kappadokiens bewohnen. Semra rollt Teigfladen aus, die kurz darauf über dem knisternden Holzfeuer gebacken werden. Drei Zuckerwürfel fallen in den nächsten Tee. Es wird eine der wichtigsten Begegnungen der gesamten Reise. Denn sie zeigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
So warm das Willkommensgefühl bei Ismael war, so mulmig ist uns schon wenige Wochen später zumute. Eine Mischung aus gespannter Erwartung und einem schwer fassbaren Gefühl beklemmender Ungewissheit steigt auf, als wir unter einem grossen grünen Strassenschild hindurchfahren, das deutlich anzeigt: Hier beginnt die Islamische Republik Iran. Hätte ich drei Länder nennen sollen, von denen ich mir am meisten wünschte, meine diffuse Vorstellung mit der Realität abgleichen zu können, der Iran wäre mit Sicherheit dabei.
«Welcome to Iran», rufen uns zwei junge Männer in einem Park zu. «Welcome to Iran», sagt ein gut gekleideter Familienvater und schüttelt uns die Hand. «Welcome to Iran», sagt eine junge Frau im schwarzen Tschador und strahlt. «Welcome to Iran», sagt ein Busfahrer und winkt. Bei einem Stadtrundgang durch Isfahan wollen uns so viele Menschen begrüssen und ein paar Sätze mit uns wechseln, dass die Polizei eingreift und die entstandene Menschenansammlung auflöst. Menschenansammlungen sind politisch nicht erwünscht.
Das erleben wir auch in Täbris, als Fans der lokalen Fussballmannschaft Tractor SC ihren Sieg im El-Gölü-Park feiern. Einen Steinwurf von unserem Übernachtungsplatz entfernt versammeln sich einige Dutzend junge Frauen und Männer, jubeln, singen und tanzen. Kaum hat die Party begonnen, patrouilliert ein Polizeiauto. Die blosse Anwesenheit genügt. Ehe wir uns versehen, sind alle verschwunden und der grosse Platz, auf dem wir parken, ist leergefegt.
Über die Ausläufer des Himalayas tasten wir uns durch Zentralasien, durch die kasachische Steppe und über das russische Altaigebirge. Und plötzlich ist sie da, die endlose Weite. Es duftet nach wildem Schnittlauch. Über Hunderte von Kilometern kein Haus, kein Mensch, kein Baum. Nichts, woran sich das Auge festhalten kann. Nur zwei Bergketten in der Ferne markieren das Ende der Ebene und geben die grobe Richtung vor. Mit der Weite kommt der berüchtigte Wind, der Tag und Nacht wütet. Er hat dem Land seinen klangvollen Namen gegeben. Mongolei – das Land der garstigen Winde.
Die Weite gibt uns ein ungeahntes Gefühl absoluter Freiheit. Wir können anhalten, wann immer wir wollen. Jeder Ort ist ein grandioser Stellplatz. Keine Strasse, die uns den Weg weist, nur ein Geflecht von Spuren, das sich wie ein riesiger, weit geflochtener Zopf in die Landschaft legt. Wir können in eiskalten Flüssen baden oder nachts um den Camper tanzen, kein Mensch weit und breit, den wir stören könnten. Es war dieses Gefühl von Freiheit, von dem wir insgeheim träumten, als wir aufbrachen.
Abgeschleppt.
«Nein, Sie dürfen nicht einreisen», entscheidet der junge Grenzbeamte nach einem Blick in unser Fahrzeug. Müsste man alle Länder der Welt nach ihrer Eignung für eine Reise mit dem Wohnmobil in eine Rangfolge bringen, Singapur wäre wohl auf dem letzten Platz. Nicht, weil der Stadtstaat auf einer fast vollständig bebauten Insel am südöstlichen Ende der eurasischen Landmasse liegt. Und auch nicht, weil dort alles streng reglementiert und überwacht scheint, was dem Freiheitsbedürfnis der meisten Individualreisenden per se widerspricht.
Der Grund ist ein anderer: Wohnmobile dürfen auf den Strassen Singapurs nicht fahren. So weit, so schlecht. Aber warum müssen wir überhaupt hierher? Nach viermonatiger Suche, nach fast 100 E-Mails, nach stundenlangen Gesprächen mit Agenturen, Reedereien, nach unzähligen Meetings in modernen Bürotürmen in Bangkok und Kuala Lumpur, nach allen anderen Versuchen ist ein Seetransport ab Singapur die einzige Möglichkeit, Paula über den Pazifik zu bringen.
Bis ans Ende des Kontinents zu fahren, war nicht leicht, aber machbar. 48 Stunden Wartezeit an der Grenze für die Einreise nach Malaysia? Kein Problem. Paulas Motor in einem Hinterhof in Laos zerlegen? Machbar. Wieder zusammenbauen? Schon etwas schwieriger, aber wir haben es geschafft. Und jetzt soll die Reise hier enden, weil Paula nicht über die Strassen dieses Landes zum Hafen fahren darf, wo in drei Tagen das Frachtschiff nach Nordamerika ablegt?
Niedergeschlagen und ratlos sitzen wir auf dem blitzblank gefegten Bürgersteig und starren auf die Fahrzeuge, die sich in einer langen Schlange über die riesige Brücke zwischen Malaysia und Singapur schieben. Was heisst denn das eigentlich: «Wohnmobile dürfen nicht fahren»? Und wie sieht es mit Rollen aus? Einen Versuch ist es wert.
Zwei Stunden später klingelt irgendwo auf der Insel das Telefon bei einem Mann chinesischer Abstammung, der sich kurz nach dem Gespräch in seinen grünen Lastwagen setzt und Richtung Grenze aufbricht. Eine weitere Stunde später ist Paula buchstäblich in Ketten gelegt. Nach einigen Umbauarbeiten passt die Abschleppvorrichtung unter unser mobiles Haus mit Fahrverbot, und es rollt mit angehobener Vorderachse im Schlepptau durch den Schlagbaum. Der junge Grenzbeamte winkt uns freundlich zu, und über uns blinkt eine grosse Anzeigetafel in Orange: «Have a safe and pleasant drive!»
Damit wäre von all den scheinbar unlösbaren Herausforderungen für den Seetransport über den Pazifik eine gemeistert. Bleiben noch vier: Wir brauchen Zollpapiere, die wir nicht haben. Paula muss sauber wie ein Neuwagen sein, was selbst bei grösster Anstrengung aussichtslos ist. Das Fahrzeug muss komplett leer sein, und die Einfuhr in die USA, so prophezeit man uns, wird so oder so unmöglich. Klingt machbar. Versuchen wir es!
Wie geht die Geschichte weiter?
Auf dem Weg durch die Kontinente gibt es immer wieder knifflige Situationen: Flussdurchfahrten in abgelegenen Tälern, die auf keinen Fall schief gehen dürfen. Passstrassen, auf denen die Spur so ausgewaschen ist, dass Paulas Räder kaum Platz finden und es neben dem Reifen rund 800 Meter fast senkrecht in die Tiefe geht. Einspurige, unbeleuchtete Tunnel und Morast, in dem Paula bis zur Achse versinkt. Und ein Feuer unter der Motorhaube… aber lest am besten selbst!
Über die Autoren
Sabine Hoppe (44) wuchs im deutschen Amberg auf. Sie studierte Kunst, Germanistik und Malerei und arbeitet heute als Realschullehrerin, Autorin, Foto- und Videografin.
Thomas Rahn (44) verbrachte seine Kindheit im deutschen Freihung. Nach Abschluss seines Architektur- und Forstwissenschaftsstudiums beschäftigte er sich wissenschaftlich mit Umweltwahrnehmung. Er arbeitet heute als Reisejournalist, Vortragsreferent, Autor und Fotograf.
Sabine und Thomas haben ein Buch über ihre Abenteuer geschrieben. Mehr Infos und Bestellmöglichkeiten findest du hier: www.abseitsreisen.de