Die letzten Tabu
150 Jahre Zivilisierungs- und Bekehrungsversuche haben nicht gereicht, um dem Volk der Tolai die Moderne aufzuzwingen. Traditionen sind noch so lebendig, als würde man eine Zeitreise antreten, sobald man den Fuss auf ost-neubritannischen Boden setzt. Claudio Sieber folgt dort der Spur eines bedeutsamen Kulturgutes: des Muschelgeldes Tabu.
Ausgabe: 133 Text & Bilder: Claudio Sieber
Man stelle sich ein Katapult vor, das die kraushaarigen Melanesier aus der Ära der Selbstjustiz und des Selbstversorgertums ohne Umweg in die globalisierte Gegenwart geschleudert hat. Unterwegs war gerade Zeit genug, T-Shirts überzuziehen und die auf Tok Pisin übersetzte Bibel zu studieren. Noch heute werden die Völker in Papua-Neuguinea ihren Ruf als Kannibalen nicht los. Wie so oft trüben die Altlasten das Landesimage der Gegenwart. Dabei kümmern sich die Stammesgruppen in den ländlichen Gebieten lediglich um ihre innenpolitischen Fehden. Die Gefahr, in einem Kochtopf zu landen, ist seit dem Auftauchen von missionarischen Eiferern verschwindend klein geworden. Sehr wohl aber strolchen die Männer noch immer mit Macheten gewappnet durch die isolierten Dörfer. Dabei sorgen Selbstgebrautes oder «Warrior Dark Rum» kaum für bessere Sitten. Doch weiss der gezähmte Krieger heutzutage, wer Freund und wer Feind ist.
Depeschen aus dem Irrenhaus
Neben mir auf dem Fussboden liegt Hans. Er ist mein Schlafnachbar auf den nackten Holzplanken einer Hütte am Sepik-Fluss, meinem ersten Ziel in Papua-Neuguinea. Per Mail haben wir uns vorgängig beschnuppert. Der junge Belgier verfügt über die Barmherzigkeit eines weisen Samariters, gepaart mit einer übermenschlichen Courage. Den Komfort in seiner Heimat hat er gegen NGO-Arbeit im Aussendienst eingetauscht. Egal was, nur unbequem haben wollte er es. Das Schweizerische Rote Kreuz akzeptierte sein Gesuch und schickte ihn nach Hela, Papua-Neuguinea – ins Epizentrum indigener Konflikte.
Hans’ Anekdoten hören sich an wie Depeschen aus dem Irrenhaus. Nur wenige Stammesangehörige können einen Taschenrechner bedienen, kennen aber bis zu neun Generationen zurück die Namen ihrer Ahnen. Niemand vergisst, wer vor langer Zeit wem was geraubt hat, wer mit wem im Bett war und wer in der Zukunft ein Gefahrenpotenzial darstellen könnte. Säbelrasseln ist fester Bestandteil eines andauernden Rachezyklus. Dabei geht es meistens um Land oder Frauen und nicht selten um Schweine, die den Frauen als ebenbürtig gelten. Hans hilft bei der Schlichtungsarbeit. Manche Bagatellfälle werden monetär oder durch Kompensation mit Schweinen – oder Frauen – beigelegt. Wenn dies nicht möglich ist, werden Häuser und Schulen der Gegenseite angezündet, oder es geht aufs Schlachtfeld, wo sich die Männer bekämpfen, bis beiden Parteien die Kämpfer ausgehen. Viel hat sich diesbezüglich seit der Erfindung von Pfeil und Bogen nicht verändert.
Hans kommt gerade zurück von einer einwöchigen Verschnaufpause in Neubritannien und verrät mir: «Weisst du, dass die Tolai dort immer noch mit Muschelgeld handeln?»
Wantoks in Kokopo
Einen Monat später. En Route zur abgeschiedenen Provinz Ost-Neubritannien scanne ich vom Flugzeugfenster aus das Dach eines jungfräulichen Dschungels. Was ist zu erwarten von einer Region, die eher von Hilfswerkagenten als von Touristen besucht wird? Ein Blick in mein Notizheft verrät, dass die Tolai, eine Volksgruppe, die heute etwa 120 000 Menschen zählt, ursprünglich auf der Nachbarinsel Neuirland gesiedelt haben. Vor rund 250 Jahren kamen sie nach Neubritannien und vertrieben das Volk der ansässigen Baining in die Berggebiete. Das Hauptmotiv für die Migration, so sagt man, war die Entdeckung grösserer Bestände von Nassariidae-Meeresschnecken im seichten Küstenwasser. Deren Gehäuse werden zu Tabu verarbeitet – der antiken Währung, eine Kostbarkeit für die Tolai.
Ich solle mir so bald als möglich Wantoks verschaffen, hatte man mir ans Herz gelegt. Ein Wantok ist ein Freund oder Bekannter, der bestenfalls derselben Grossfamilie angehört und im schlimmsten Fall immerhin eine der rund 800 Stammessprachen gemeinsam hat. Wantoks lösen ziemlich alle Probleme und sind das Fundament für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Papua-Neuguinea. Sie sind elementar für ein Land, in dem keiner auf die Idee käme, an einen fremden Ort zu reisen, ohne dort jemanden zu kennen, und sei es nur über sieben Ecken. Meine Wantoks in Kokopo, der Provinzhauptstadt, sind John Lote und sein Bruder Vin, die Chefs des Bitagunan-Enenau-Clans. Hans war der Vermittler.
Die beiden freuen sich wie kleine Kinder über meine Idee, den Spuren des Tabu und dessen Bedeutung zu folgen. Um meine Ankunft im Muschelgeldeldorado zu feiern, haben sie auch schon einen Ausflug geplant. Für meine Feldforschung gehen wir zusammen in den Wald. Denn heute wird ein Stück Hinterland eingeweiht. «No worries, you’re in good hands» – unterstreichend dazu recken John und Vin ihre Daumen nach oben. Als ob das Duo ahnt, dass ich mir erst langsam der Situation, mit einem Haufen Unbekannter in den Schlund des papua-neuguineischen Busches zu fahren, bewusst werde.
Ist mir bei dem Gedanken mulmig? Nein! Ich vertraue den Menschen, und über all die bereichernden Jahre ausserhalb der Komfortzone habe ich mein Gespür so weit feinjustiert, dass ich Freund von Feind zu separieren vermag. Gerade im Inselstaat Papua-Neuguinea, in dem es nicht an Problemen mangelt, wird ein Besucher wertgeschätzt. Besonders, wenn dieser neugierig auf die lokalen Gepflogenheiten ist und den Menschen dabei mit Respekt begegnet.
Doppeltaufe
Das einzuweihende Landstück wird den männlichen Clanangehörigen in naher Zukunft als heiliger Zufluchtsort und als Nidok (Buschuniversität) dienen. John und Co. werden hier die Clannachkommen in das Selbstversorgertum und in die Bräuche der Tolai einführen sowie in Überlebensstrategien und den gesellschaftlichen Werten unterweisen. Dabei gilt es für die Lehrlinge, vier Lernstufen zu bestehen, die jeweils mehrere Wochen Schulung beinhalten. Für jede Stufe ist Muschelgeld als Zoll notwendig, jedes Mal etwas mehr. Erst mit Abschluss der letzten Stufe mausert sich ein Tolai zum potenziellen Clanhäuptling.
Die Clanführer müssen auch vertraut sein mit dem Christentum, das ihnen die Missionare bereits seit 1830 einbläuen, aber auch mit dem animistischen Glaubenssystem, mit sozialen Angelegenheiten, mit Wirtschaft und Politik. Im Mittelpunkt der heutigen Bodentaufe steht wie bei allen Tolai-Zeremonien der Tubuan, der Geist eines Ahnen. Ich hatte vorgängig nur vom wandelnden Busch gehört, der die spirituelle Brücke zwischen dem irdischen Leben und dem Jenseits repräsentiert. John flüstert mir zu, dass der Tubuan des Bitagunan-Enenau-Clans heute auftauche, um die Einweihung des Ortes offiziell zu bestätigen – was gleichzeitig eine perfekte Gelegenheit biete, um mich in ihren Clan aufzunehmen.
«Der rote Tolai-Rock steht dir gut», findet John und lacht verschmitzt. Meine Aufnahmezeremonie steht an. Dazu schmieren mir seine Helfer orangebraunen Lehm übers Gesicht und auf den nackten Oberkörper. Ich werde mit Muschelgeld ausgerüstet und angewiesen, mich vornüberzubeugen. Man stelle sich eine Sprechblase über der Szene vor mit: «???!» Aus der Ferne erreichen mich Laute aus einer anderen Welt. Ich höre raschelndes Blattwerk gefährlich schnell näherkommen, bis nur noch wenige Zentimeter zwischen dem buschigen Wesen und meiner Hinterseite sind. Was mache ich hier eigentlich?! Unverhofft wird mir mit Schwung eine Rute über den Buckel gezogen, dann darf ich mich umdrehen und muss zwischen den gespreizten Beinen des Tubuan durchkriechen. Mit dem Überreichen eines Param, rund 220 bis 240 auf eine Naturfaser gefädelter Muschelschalen im Wert von 5 Kina, circa 1 Franken 50, kaufe ich mich offiziell in die Gesellschaft der Tolai ein. Ein Schnäppchen, denn die Subuna, die Initiation für einen Jungen, kostet normalerweise ungefähr 500 Kina. «Du bist jetzt ein Mann», jubiliert John, «ein richtiger Tolai!»
Der Mann hinter der speziell gefertigten Tubuan-Maske bleibt unerkannt. Die Festgemeinschaft hat in der Zwischenzeit Mumu, die typische Tolai-Speise, vorbereitet. Dabei werden Fischhappen, Kürbisblätter, Taro und Süsskartoffeln mit Kokosnusspüree in Bananenblätter gewickelt und unter heissen Steinen niedergegart. Mit surrealen Tubuan-Tänzen, angefeuert vom Bass der Kundu-Trommler, und traditionellem Gesang feiert der Clan seine Identität sowie das Leben bis in alle Nacht. «Das Eingeweihtwerden in die tubuanische Gesellschaft ist elementar für die Zukunft der Tolai», erklärt John. «Denn ein Kulturverlust führt zu mehr Strassenkriminalität und Disziplinlosigkeit unter den Jugendlichen. Es ist uns wichtig, dass sie zusammensitzen und singen, Essen teilen und die Wurzeln unserer Vorfahren studieren.» Ich betrachte die Szene mit Wonne und Optimismus – zumindest für die gegenwärtigen Tolai-Generationen scheint es trotz der einsickernden Globalisierung unmöglich, dass die Lebensweise ihrer Ahnen so rasch verschwinden wird. Im Gegenteil, die Gemeinschaften bewahren das uralte Vermächtnis, indem sie den männlichen Nachkommen neben der staatlichen Schulbildung, die mehrheitlich mit Muschelgeld querfinanziert wird, via Buschuniversität die tolaische Philosophie mitgeben. Auch die Mädchen lernen neben der Schule ihren Teil der Traditionen, die sich vorwiegend auf die haushälterischen Arbeiten beziehen.
Tabu-Dealer
Von nun an darf ich in Vin Lotes Abstellkammer wohnen. Mein Gastgeber erinnert mich von der Erscheinung her etwas an den voluminösen Jabba the Hutt aus «Star Wars». Normalerweise findet man Vin sitzend oder liegend in unmittelbarer Nähe des Fernsehers, der ihn mit philippinischen Seifenopern einlullt. Falls Vin nicht gerade schlummert, scheucht er ein kleines Gefolge mithilfe seines Megafons über den Hof. Was Vin an Look und Elan fehlt, macht er mit Kreativität wett. Der Tausendsassa herrscht über einen Autofriedhof, eine kleine Schweine- und Hühnerzucht, eine Backschule für Hausfrauen, ein Müllrecycling-zentrum, eine Stiftung für Touristik, eine Brennholz-Verkaufsstelle, einen Secondhandbasar, ein Hotel (im Aufbau) – und das alles innerhalb von 150 Quadratmetern. Seine Nachbarn bezeichnen ihn nicht nur wegen der Körperform unisono als «Big Man», denn Vin hortet Muschelgeld, viel Muschelgeld. Und das ist bei den Tolai bedeutender als Bargeld.
Nach einer Schlauchdusche zwischen Schweineschuppen und Hühnerstall ziehe ich hinüber zum Markt. Heute will ich selbst mit Muschelgeld handeln. Vor 45 Jahren, als Papua-Neuguinea seine Unabhängigkeit von Australien beanspruchte, war das Tabu-Muschelgeld bereits fest in der Tolai-Kultur verankert. Und Dekaden später, nach der Einführung des Bargeldsystems, sind die Tolai noch immer fest mit ihren Meeresschätzen verbunden.
«Ohne Muschelgeld würde es keine Initiationen, Hochzeiten, Beerdigungszeremonien, Schweinefeste und keine starre Hierarchie innerhalb der hiesigen Gesellschaft geben», sagt Shane, der mit seiner Kollegin Xavir eine kleine Wechselstube in der Nähe des Markts in Kokopo betreibt. Hier können die Tolai Tabu kaufen und verkaufen, je nach dem ob sie gerade Cash benötigen, um Rechnungen zu bezahlen, oder beispielsweise zu einer Hochzeit eingeladen sind und keine Muscheln an Lager haben.
Shane erwähnt, dass die Tolai normalerweise ihr Muschelgeld zu Hause bunkern. «Je mehr du hast, desto höher ist dein Status in der Gemeinde.» Beim Ankauf überprüfen die beiden Muschelhändler zuerst die Abstände zwischen den einzelnen Muscheln auf dem Strang, dann die Qualität der Schalen. Für 60 Kina kaufe ich 1 Arip beziehungsweise 10 Param. 10 Prozent gehen als Tauschkommission an die Händler.
Euphorisch toure ich durch den Markt. Für je 1 Param ergattere ich Erdnüsse, etwas frischen Tabak, 25 Betelnüsse, 5 Auberginen und Peperoni, 10 Mangos, 4 Kilo Süsskartoffeln und mein Mittagessen. Auch beim «Allerlei-Shop» händigt man mir zwei Flaschen Coca-Cola gegen Tabu aus plus Wechselgeld in Kina. Bei der Mobiltelefon-Topup-Station kassiere ich zuerst einen perplexen Blick, darf dann aber Müschelchen gegen Digicel-Flex-Guthaben tauschen. Komplizierter entpuppt sich meine Anfrage bei PNG Motors, die mir partout keinen Neuwagen für Tabu verkaufen wollen: «Nein, auch kein Leasing, Sir!» Und auch der Chinese Mr. Lee behält seinen Sack Reis lieber, statt Tabu zu verdienen.
Warkukul
Traurig, aber wahr, Frauen haben in Papua-Neuguinea nicht viel zu melden. Trotz dem wachsenden Einfluss westlicher Denkhaltung und bürokratischen Bemühungen sind Frauen nach wie vor Besitz der Ehemänner. Um zu heiraten, muss ein Mann seine Auserwählte aus ihrer Familie auskaufen, indem er einen Brautpreis zahlt. Mit «Mi baim em finis», Tok Pisin für «Ich habe schon bezahlt», definiert die Männerwelt allzu gerne den heiligen Bund der Ehe und macht damit klar, wer die Hosen anhat.
Über den Autor
Der Ostschweizer Claudio Sieber (38) ist seit über sechs Jahren nonstop als Abenteurer und freischaffender Multimediajournalist in den abgelegensten Ecken Asiens unterwegs, um auf kontroverse Themen aufmerksam zu machen, die er für relevant hält: die Traditionen fremder Völker, die Popkultur und den Gesellschaftswandel im Fernen Osten. Seine Bilder und Geschichten erscheinen in den verschiedensten internationalen Medien.
Wie geht die Geschichte weiter? Der Autor hat die Gelegenheit, bei einer Brautpreiszeremonie dabei zu sein und erlebt, wie der Ehemann zahlreiche Muscheln und andere Güter erhält. Später wird er zu einer Trauer- und Erbteilungszeremonie eingeladen und trifft den Bürgermeister, der ihm von seinen hochtrabenden Plänen in Sachen Muschelgeldbank erzählt.