Im Tal der Trolle
Einmal mit Kajak und Zelt in der Wildnis unterwegs sein. Und dabei Gutes tun. Das ist die Idee hinter der Reise, die unsere Redaktorin Sabine Zaugg in die norwegische Region Lofoten führt. Nördlich des Polarkreises findet sie karibikblaues Meer, Müll und ein neues Mantra.
Ausgabe: 141 Text: Sabine Zaugg Fotos: Jan Philip Baldus
Kopfüber baumle ich im Wasser wie ein Teebeutel. Meine Hüfte und Beine stecken im umgekippten Kajak fest, und ich bekomme keine Luft. Um rauszukommen, muss ich die am Sitz festgezurrte Spritzschutzdecke lösen. Mit geschlossenen Augen ertaste ich die Lasche und ziehe. Die Neoprenhandschuhe sind glitschig, und der «Holy Crap Strap», wie unser Kajaklehrer Kristian den beim Kentern lebensrettenden Riemen aus Nylon nennt, rutscht mir durch die Finger. Auch beim zweiten Versuch glitscht mir die Lasche wie ein Fisch aus den Händen. Ich spüre, wie Panik in mir aufsteigt. Ich will hier raus! Ruckartig bewege ich meinen Oberkörper vor und zurück. Vielleicht löst sich die um meine Hüften festgespannte Decke so vom Kajak? Doch die Anstrengung ist umsonst. Ich stecke immer noch fest, nur brauche ich jetzt noch viel dringender Luft als vorher.
Das Wasser auf den Lofoten ist eiskalt. Und glasklar. Bevor die Angst mein Hirn lahmlegt, öffne ich die Augen. Die Lasche hängt knapp einen Meter vor mir. Mit beiden Händen greife ich hindurch und ziehe, ruckartig löst sich die Decke. Jetzt kann ich mich mit den Armen abstützen und meine Beine aus dem Kajak herausschälen. Nach Luft ringend tauche ich auf. Die nassen Haare kleben mir am Kopf, das Salzwasser brennt in meinen Augen. Ich erinnere mich, dass Kristian gesagt hat, wir sollen auf das umgedrehte Kajak klettern, damit zumindest der Oberkörper aus dem kalten Wasser hinausragt. Also kralle ich mich wie eine Katze auf einem Ast an meinem Plastikkajak fest. Erst jetzt bemerke ich Kristian und Lisa in ihren Kajaks neben mir. Die beiden waren die ganze Zeit über in meiner Nähe. Auch die anderen acht Frauen und Männer unserer Gruppe sind nicht weit und üben in ihren Kajaks das Aussteigen unter Wasser. Wir sind mitten im Training.
«Alles o.k.?», fragt Kristian. «Ich habe gesehen, wie du hin- und hergezappelt bist, aber ich wollte dich selbst einen Weg finden lassen. Da draussen wirst du auch alleine klarkommen müssen. Am besten du übst das gleich noch mal.»
Ich lasse mir von Lisa ins Kajak helfen, reibe mir das Salzwasser aus den Augen und hole tief Luft. «Hilfe!», denke ich. «Was habe ich mir da bloss eingebrockt?» Dann kippe ich zur Seite.
Qajaq.
Am Abend zuvor trafen wir uns alle im schummrigen Dachstock unserer Unterkunft. Kosta, der Organisator der Reise, schaltete einen Beamer ein und stellte eine Leinwand auf. Knapp 24 Stunden vorher hatte er mich am Flughafen in Leknes abgeholt. Zur Begrüssung gab es eine herzliche Umarmung. Wir sahen uns bislang nur zweimal per Videokonferenz, und ich war erstaunt, wie gross der bärtige Deutsche mit ukrainischen Wurzeln in Wirklichkeit ist. Ich sass mit den anderen auf alten Sofas und Schaukelstühlen im Kreis. Fünf Frauen und fünf Männer zwischen Mitte 20 und Mitte 40 blickten gespannt zur Tür. Wir warteten auf Kristian, unseren lokalen Tourguide. Er ist der Einzige, den wir bislang nicht persönlich getroffen haben. Wir anderen haben uns heute im Verlaufe des Tages kennengelernt. Einige kannten sich bereits von früheren Reisen.
Die Gruppe besteht zur Hälfte aus FernWind-Mitgliedern. Kosta, der richtig Konstantin Sergijenko heisst, gründete FernWind vor fünf Jahren. Die junge Community organisiert Expeditionen und verwirklicht so kollektive Reiseträume. Und weil sich auch andere von den FernWind-Touren angesprochen fühlen, schliessen sich der Gemeinschaft immer neue abenteuerhungrige Menschen an. So wie ich.
Wir warteten nicht lange. Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht kam er zur Tür herein und stellte sich als Kristian Louis Jensen vor. Seine Mutter ist eine Inuit aus Grönland, sein Vater Norweger. Kristian lebt seit über zehn Jahren auf den Lofoten und kennt die Berge und Fjorde wie kaum ein anderer. Dank seinem Wissen können wir diese Tour überhaupt machen. Eine Woche abseits der Zivilisation, unterwegs mit Kajak und Zelt und einer Mission: Müll sammeln!
Kristian zeigte uns auf der Leinwand, was uns erwartete. Er sprach von unbewohnten Inseln, auf denen wir übernachten würden. Er erklärte, wie wir den angeschwemmten Plastikmüll einsammeln und was wir in den nächsten zwei Trainingstagen über das Qajaq lernen würden. So nennt er das Kajak auf Grönländisch. Nebst der Paddeltechnik würden wir auch das Worst-Case-Szenario üben: Aussteigen unter Wasser. Denn hier oben, 100 Kilometer nördlich des Polarkreises, müssten wir bei der rauen See mit allem rechnen.
Dann sprach der 33-Jährige über das Wetter, und seine dunklen Augen begannen zu strahlen: «Ich habe geweint, als ich heute Morgen die Wetterprognose sah. Vor Freude! Das Wetter ist auf unserer Seite.»
Stürmischer Start.
Als wir nach den zwei Trainingstagen unsere Tour starten, regnet es. Umso mehr geniesse ich das Bett und die Dusche am Morgen. Mir wird bewusst, dass der einzige Luxus in der nächsten Woche meine aufblasbare Isomatte sein wird. Ich weiss nicht einmal, ob wir Kaffee dabeihaben. Als ich aus dem Fenster schaue, sehe ich den Vågakallen, den höchsten Berg der Gegend. Sein Gipfel ist schneebedeckt. Grimmig schaut er zu uns hinüber, als würde er uns warnen. Es riecht nach Winter, obwohl es erst Ende September ist.
Wir verladen unser gesamtes Gepäck in einen Minibus, darunter drei prall gefüllte Taschen mit Lebensmitteln. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir so viel Material in unseren schmalen Seekajaks unterbringen sollen.
Nach einer Stunde Fahrzeit erreichen wir einen Strand an der nordöstlichen Küste. Dunkle Regenwolken stehen am Himmel. Wir entladen den Minibus, reihen die Kajaks am Strand auf und verstauen das Material. Die meisten haben Zelt, Schlafsack, Isomatte, Kleidung, Hygieneartikel und persönliche Sachen dabei. Dazu kommt der Trockenanzug, den wir zum Paddeln anziehen. Moritz verteilt Zip-Beutel mit portionierten und getrockneten Mahlzeiten für eine Woche.
Wir teilen das Gruppenmaterial unter uns auf. Ich verstaue sechs Säcke Semmelknödel und Kaiserschmarrn im vorderen Staufach meines Kajaks. Dazu noch eine Gasflasche für unsere Gaskocher und meine zwei Trockensäcke mit Kleidung. Ins hintere Staufach kommen Zelt, Zeltstangen, Heringe, Schlafsack und Schuhe. Die Isomatte und den wasserdichten Rucksack mit Handy und Fotokamera packe ich unter die elastischen Gepäckbänder vor meinem Sitz. Zwei Tetrapak Hafermilch passen auch noch darunter. Mein Kajak kommt mir vor wie ein kleines Frachtschiff.
Jetzt zwängen wir uns in die Trockenanzüge, in denen wir aussehen wie Teletubbies. Wir lachen, obwohl uns nicht zum Lachen zumute ist. Es regnet jetzt, und der Wind bläst uns um die Ohren. Damit uns wärmer wird, hüpfen wir in den Trockenanzügen am Strand herum und machen Teletubby-Geräusche.
Und dann ist der Moment da. Ich ziehe mein Kajak ins knietiefe Wasser, steige ein und zurre die Spritzschutzdecke fest. Martin und Jan klemmen ihre Angelruten unter die Packschnüre, Kosta wackelt in seinem Kajak bedrohlich hin und her. Lisa und ihr Freund Thomas übernehmen in ihrem Zweierkajak die Führung. Wir anderen folgen, so gut wir bei Wind und Regen mithalten können. Kristian paddelt so elegant und mühelos über die Wellen, als würde er Yoga machen.
Unsere Kajaks leuchten als rote, gelbe oder orange Striche auf dem dunklen Meer. Wir paddeln aus der Bucht hinaus auf einen breiten Fjord. Weit am linken Horizont erhebt sich die Küste der Vesterålen. Am rechten Ufer ragen schwarze Berge direkt aus dem Meer auf. Ein Wasserfall stürzt die Klippen hinunter.
Als ob die Götter uns eine gute Reise wünschen, reissen plötzlich die Wolken auf, und die Sonne wirft einen glitzernden Teppich aufs Meer. Ihr goldenes Licht verwandelt die bedrohlichen schwarzen Zacken in majestätische Gipfel. Der Wasserfall bauscht sich wie ein Brautschleier. Ein Regenbogen steht am Himmel.
Bei diesem Anblick breitet sich Zuversicht in mir aus. Die Schönheit der Natur vertreibt meine Sorge, dass irgendetwas schiefgehen könnte. Nicht an so einem Ort, vor dieser gewaltigen Kulisse. Die Götter sind auf unserer Seite.
Glückspilze.
Mitten in der Nacht wache ich auf, weil ich schief im Zelt liege. Ich spüre den harten Boden unter meinem Rücken. Er ist feucht und kalt. Meine aufblasbare Isomatte ist flach wie eine Serviette. «Das kann doch nicht wahr sein!», schimpfe ich und befreie mich aus dem Schlafsack, um die Isomatte wieder aufzublasen. «Von wegen, nichts läuft schief», denke ich, als ich mich wieder hinlege und die Augen schliesse.
Am Morgen ist die Isomatte wieder luftleer. Es ist kalt. Ich schlüpfe mit Leggins in die Hose und ziehe mir eine Jacke über mein Merino-Shirt. Die Morgensonne strahlt, Tautropfen glitzern auf den Gräsern. Unsere Zelte stehen verstreut auf einer Anhöhe. Unten am Strand thront das Gruppenzelt vor dem tiefblauen Meer.
Am Abend zuvor haben wir unser Camp auf einer unbewohnten Insel aufgeschlagen. Bei Anbruch der Dunkelheit entfachten wir ein Feuer und brieten Fische, die Martin und Jan gefangen hatten. Dazu kochten wir auf unseren Gaskochern Couscous mit getrocknetem Gemüse. Wir wärmten uns am Feuer und erzählten Geschichten. Später holte Martin eine Whiskyflasche aus seinem Zelt und verkündete, dass er heute 41 Jahre alt geworden sei. Wir jubelten, sangen und liessen die Flasche kreisen. Dass er ausgerechnet an seinem Geburtstag in ein solches Abenteuer startete und dann gleich noch drei Fische fing, machte ihn zu einem wahren Glückspilz. Als sich gegen Mitternacht der Nachthimmel über unserer kleinen Insel grün verfärbte und wir die Nordlichter tanzen sahen, wurde uns klar, dass wir alle Glückspilze sind.
Ich schleppe meine Isomatte hinunter zum Strand. Martin steht bereits am Lagerfeuer und kocht Kaffee. Genau das, was ich jetzt brauche. Und Seifenwasser, damit ich das Loch in meiner Isomatte ausfindig machen kann. Zum Glück habe ich ein Flickset dabei. Ich dichte das winzige Loch mit Spezialklebstoff ab und hoffe, dass es hält.
Nach und nach kriechen alle aus ihren Zelten. Wir essen Müsli und brechen danach unser Lager ab. Doch bevor wir losziehen, wartet noch eine Mission auf uns.
Müllsammeln.
Wir klettern über die Anhöhe auf die Westseite der Insel und finden ein von Moos überwachsenes Eisentor zwischen den Heidelbeersträuchern. Der felsigen Küste entlang sammeln wir PET-Flaschen, Bojen, Seile, zerbrochene Plastikteile, Fischernetze und einen Lastwagenreifen.
Die Lofoten mit ihren unzähligen Inseln funktionieren wie ein Sieb, durch das die Golfströmung Müll schwemmt, der dann an den Küsten hängenbleibt und verrottet oder, noch schlimmer, zu Mikroplastik zerfällt. Schätzungen zufolge treiben rund 140 Millionen Tonnen Plastikmüll in unseren Meeren.
Wie geht die Geschichte weiter?
Es geht in den weltberühmten Trollfjord hinein, um den sich viele Sagen ranken. Die Gruppe lässt die Kajaks für einen Tag auf dem Trockenen und geht wandern. Hier erleben sie Norwegen noch mal aus einer anderen Perspektive. Kurz vor dem Ende der Tour wechselt das Wetter und die Gruppe muss auf den wogenden Wellen Salsa tanzen – im Kajak.
Über die Autorin
Sabine Zaugg (44) ist Redaktorin beim Globetrotter-Magazin und bestrebt, sich immer mal wieder aus ihrer Komfortzone hinauszuwagen. Sie interessiert sich für nachhaltiges Reisen und durfte diese Tour auf Einladung von FernWind Expeditionen mitmachen.
Über den Fotografen
Jan Philip Baldus (25) aus Mainz liebt Klettern und alle Arten von Outdoor-Abenteuern. Der Fotograf mit einem Bachelor of Arts in Media Design gehört zum FernWind-Team und sorgt dafür, dass die Reise nicht nur im Kopf in Erinnerung bleibt, sondern auf zahlreichen Bildern festgehalten wird.