Aufbruch im Abseits
Was in weiten Teilen Pakistans undenkbar ist, tritt im Karakorum selbstbewusst aus dem Schatten des Patriarchats: Frauen machen sich auf, eine Zukunft zu formen, die einst unerreichbar schien. Sie erlangen Studienabschlüsse, spielen öffentlich Fussball und gehen bezahlter Erwerbstätigkeit nach.
Ausgabe: 148 Text und Bilder: Priska Seisenbacher
«Entscheidend ist Disziplin, Mädels! Disziplin und Respekt den anderen gegenüber. Tike?» Wenn Nabila spricht, dann mit ihrem ganzen Körper, nicht nur mit ihren Stimmbändern. Gebannt scharen sich die Mädchen um sie. Hier fliesst die Energie, die sich sogleich auf dem Spielfeld entladen soll. Binnen weniger Augenblicke hat Nabila eine unkoordinierte, laute Menge an Teenagern zu Teams formiert. Gibt ihnen letzte Anweisungen, wiederholt Spielposition und Aufgabe jeder einzelnen Spielerin. Kein Satz ohne ein helles, lang gezogenes «Tike?», «Gut?». Ein Scherz zum Schluss. Ein herzerwärmendes Lächeln dazu. Dann los.
Wenn sie im Klassenraum so zu elektrisieren vermag, wie hier auf dem Fussballfeld, werden ihre Kinder Mathematik lieben. In der Siedlung Zudkhan arbeitet die 27-Jährige als Lehrerin in der dortigen Highschool. Als zeitweiliger Fussballcoach motiviert sie die Mädchen, die mit ihrer Unterstützung 2019 ein regionales Fussballturnier gewonnen hatten.
Eine Handvoll junger Männer nimmt an den regelmässigen Trainingseinheiten der Fussballspielerinnen teil. Dass sie na-mahram sind, also Männer, die nicht verwandt mit ihnen sind und sie heiraten könnten, stört niemanden. Chipurson ist eines der abgelegensten Bergtäler Pakistans und verläuft entlang der afghanischen Grenze. Berge und Staatsgrenzen isolieren. Ansonsten aber: Die Freiheit dieser jungen Frauen, ohne jegliche Einschränkungen Fussball zu spielen, bleibt denen im Tiefland meist verwehrt. Ein Tal so frei wie seine Vokale wählbar. Es kann Chipurson heissen, aber auch Chapursan oder Chupurson.
Freiheit in der Enge
Ich entferne mich, in meine Gedanken schiebt sich das Gestern. Tage zuvor war ich von der Stadt Gilgit in die Gebirgsregion Karakorum aufgebrochen und lernte im Bus Nabilas Schwester kennen. «Du reist allein?», fragt Anisa. «Das ist gut so! Du bist frei und entdeckst die Welt.» Dass sie Single sei, sei ihre Entscheidung und sie geniesse die Freiheit, erzählt mir die Physiklehrerin.
Ihr Englisch ist bestens, ihr Strahlen hell. Im Bus ist nichts von der Enge zu spüren, die Gilgit und den südlichen Teil der autonomen Region Gilgit-Baltistan bestimmt. Dort spüre ich die gelebte Geschlechtertrennung deutlich. Als westliche Frau kann ich allerdings gegen parda, die Massnahmen zur Abschottung der Frau, verstossen. Der persische Begriff heisst so viel wie Schleier oder Vorhang und legt sich wie ein solcher über Köpfe. Wortwörtlich oder aber sinngemäss über Gedanken.
Während sich auf der Fahrt in den Distrikt Hunza die Gedanken weiten, verengen sich die Täler. Die Dörfer an ihren Sohlen sind mit Lehmhäusern bestückt und von fruchtbaren Gärten umgeben. Alle auf rund 2400 Höhenmeter oder darüber. Umrahmt von zerklüfteten Berggiganten und durchzogen vom Fluss Hunza. Zu unseren Füssen der Karakorum Highway, eine der höchsten Fernstrassen der Welt.
Mein Tagesziel liegt in Gojal, auch Upper Hunza genannt. In diesem grössten Gebiet des Hunza-Distriktes leben vor allem Wakhis. Sie zählen nicht nur zu einer der vielen ethnischen Minderheiten im Land, sondern auch zu einer religiösen. Alle eint sie das Ismailitentum. Die zweitgrösste Glaubensrichtung im schiitischen Islam umfasst rund 20 Millionen Menschen, verteilt auf über 25 Länder mit grösseren Gemeinden in Zentral- und Südasien.
Schwerwiegende Entscheidung
Vorerst bleibe ich Chipurson fern und halte in der Ortschaft Passu. Dort lebt die 46-jährige Najma Parveen. Sie ist das Kind einer Zeit, die noch keine Studienabschlüsse und Jobs für Frauen vorsah, und eine Wegbereiterin für die Möglichkeiten junger Frauen heute. «Frauen tragen mehr Verantwortung als Männer, die sind meistens weit weg», hält Najma fest, «wir lernen früh, vieles gleichzeitig zu organisieren.»
Sie war 17, frisch verheiratet und schon allein. Ihr Ehemann gehört zu den Arbeitsmigranten, die es nicht ins pakistanische Tiefland, sondern gleich ins Ausland verschlagen hat. Die längste Zeit hat er in Grossbritannien gearbeitet und dort Geld für die Familie verdient. Die Sorge um den neugeborenen Sohn und die kranken Schwiegereltern trug Najma. Zudem musste das Haus gehütet und die Ausgaben mussten verwaltet werden. Jahrzehnte ging das so, bis ihr Mann vor zwei Jahren zurückkehrte. Eine Biografie wie viele hier in den Bergen.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts machten sich viele Männer aus Gojal in die städtischen Zentren auf. Zunächst vor allem nach Karatschi, der Pulsader der jungen Nation Pakistan. Die dort lebenden ismailitischen Khoja, erfolgreich und gebildet, begünstigten den Aufbau entsprechender Netzwerke zur Unterstützung ankommender Arbeitsmigranten.
Über die Jahre ermöglichste es den ausgewanderten Gojalis Universitätsabschlüsse und Karrieren. Sie dehnten ismailitische Netzwerke auf andere städtische Zentren aus und blieben trotz der grossen Distanz ihren Wurzeln verbunden. So zogen auch nachfolgende Generationen von Gojalis der Bildung und Arbeit wegen ins pakistanische Tiefland und konnten dort auf ismailitische Unterstützung hoffen. Heute steht dieser Weg auch vielen Frauen offen.
Autonom im Team
Zeitlebens hat Najma gearbeitet, ohne dafür entlohnt zu werden. Erst mit der Passu Women Organisation hat sich das geändert. Mit zwei anderen Frauen leitet Najma heute die regionale Entwicklungsorganisation. Eine Initiative von vielen in der Region, die von dem Aga Khan Development Network (AKDN) in Gang gesetzt wurde. Im Nizaritentum, der grössten Untergruppe des Ismailitentums, leitet das religiöse Oberhaupt namens Aga Khan die Gläubigen.
Der heute amtierende Karim Aga Khan IV. hat eines der weltweit grössten privaten Hilfsprojekte geschaffen, das unter anderem das Gesundheitswesen und Umweltthemen, aber auch die Bildung und die Gleichberechtigung der Frauen unterstützt.
Zum Netzwerk gehört das Aga Khan Rural Support Program (AKRSP), das die örtliche Frauenorganisation gründete und die Frauen ausbildete. In den Richtlinien der Aga-Khan-Stiftung heisst es, dass die beste Form von Wohltätigkeit Menschen ermögliche, autonom zu handeln. Viele Gojalis erfahren durch ihre Arbeit in Entwicklungsprogrammen wohltuende Selbstwirksamkeit.
In Passu überliessen mehrere Männer der Frauenorganisation an die 40 Hektaren Land, wovon aktuell 25 Prozent als Anbaufläche genutzt werden. «Mit dem Verkauf unserer Produkte – Öl, Gemüse und Obst – verdienten wir erstmals Geld mit unserer Arbeit», erklärt mir Najma. Der Gewinn aus dem Verkauf wird auf die 70 hier in der Stiftung aktiven Frauen aufgeteilt. Ein Teil wird ihnen als Einkommen ausbezahlt, ein anderer auf dem kollektiven Bankkonto als Ersparnis belassen.
Wie geht die Geschichte weiter?
Im Dorf Chipurson begleitet die Autorin ihre Fussballfreundin Nabila nach Hause, wo ihre Mutter Geschichten von früher erzählt, als es noch keine Kommunikationssysteme oder Fahrzeuge gab. Dass neue Zeiten angebrochen sind, zeigt sich auch beim Besuch eines Astrophysik-Kurses im Dorf Passu. Die Autorin Priska Seisenbacher lernt viel über den Aufbruch in der Hochgebirgswelt, der vor allem das Leben der Frauen nachhaltig positiv beeinflusst.
Über die Autorin
Priska Seisenbacher (33) aus Wien vermittelt als Autorin und Fotografin insbesondere Einblicke in die Lebensrealitäten von Frauen in der islamischen Welt, die unter anderem in «GEO» veröffentlicht werden. In ihren Büchern und Reportagen setzt sie kulturell-religiöse, historische und politische Zusammenhänge mit den Menschen in Bezug, deren Geschichten sie erzählt, thematisiert aber auch das Alleinreisen und reflektiert ihre westliche Prägung. So auch in ihrem Buch «Die Frauen im Karakorum», erschienen bei National Geographic.
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