Im arktischen Patagonien
Tiefe und unberührte Fjorde. Riesige Granittürme. Wilde Nordlichter. Südgrönland ist ein Traum für Outdoorenthusiasten. Der Naturfotograf Christoph Schlatter und sein langjähriger Freund Simon Buob entdecken die raue Schönheit fernab jeglicher Zivilisation.
Ausgabe: 137 Text & Bilder: Christoph Schlatter
In der Schweiz ist es Spätherbst. Meine Reisesehnsucht erwacht und zieht mich in die Ferne. Ich unternahm in den letzten Jahren viele Reisen. Wo könnte ich diesmal hin? Ich suche nach einem Ort, der Abenteuer verspricht. Grönland!, denke ich. Die ersten Suchergebnisse im Internet lassen mich nicht mehr los. Soll ich alleine reisen? Das ist mir zu gefährlich. Ich frage Simon, einen guten Freund, ob er mich begleiten möchte. Zuerst zögert er, doch dann ist sein Interesse geweckt und er sagt zu. Nach nächtelangen, intensiven Recherchen ist klar: Der Tasermiut-Fjord ist unser Ziel – das Patagonien der Arktis. Die Namen der tausend Meter hohen Granittürme, dieser imposanten Berge zuhinterst im Fjord, sind für uns nicht aussprechbar – Ulamertorsuaq, Nalumasortoq –, ihre Schönheit aber lassen mein Fotografenherz höherschlagen.
Vorbereitung
Nach und nach erkenne ich den Umfang unseres Vorhabens. Es drängen sich Fragen auf: Wie kommen wir an diesen abgelegenen Ort? Welche Nahrung nehmen wir mit? Wie verhalten wir uns in Notfällen? Den Winter über verbringe ich viel Zeit zu Hause und kläre alle Punkte ab. Ich vergleiche die Effizienz verschiedener Kochpfannen, messe den Gasverbrauch beim Kochen, erstelle Tabellen und Diagramme.
Bald ist die beste Kochausrüstung ermittelt und der Gasverbrauch berechnet. Und auch Folgendes ist klar: Wollen wir wie üblich Rohwaren kochen, benötigen wir dreimal mehr Energie als mit vorgekochten Lebensmitteln. Die Auswahl an Expeditionsnahrung, die ich auf den nächsten Bergtouren auf Geschmack und Verträglichkeit teste, ist heute gross, und erstaunlicherweise schmeckt das Essen sogar. Ein einfacher Ernährungsplan gibt Aufschluss über den zusätzlichen Kalorienbedarf.
Die Küchenwaage entführe ich in den Keller und wiege damit jedes Ausrüstungsstück. Es entsteht eine Materialübersicht: Schuhe und Kleidung 8,2 Kilo, Campingmaterial 4,3 Kilo, Nahrung 7,2 Kilo, Kameraequipment 8,7 Kilo und einiges mehr. Unsere Rucksäcke wiegen schliesslich über 30 Kilo. Trotz guter Kondition will ich zielgerichtet dafür trainieren. Das bedeutet, täglich zwei Kilometer zur Arbeit laufen sowie zusätzliches Kraft- und Lauftraining.
Es ist Mitte August. Ich schreibe eine letzte E-Mail an Henrik, unseren Kontakt vor Ort. «Hallo, Henrik, wie vereinbart kommen wir am Dienstag um 17.30 Uhr in Nanortalik an.» Die Nächte vor der Abreise schlafe ich kaum, mein Kopf kommt nicht zur Ruhe. Was erwartet uns? Wie wird das Wetter? Viele Fragen, die ich nicht beantworten kann. Ich muss es einfach geschehen lassen. Um 4 Uhr morgens reisst mich der Wecker aus dem Schlaf. Es ist Zeit, von zu Hause Abschied zu nehmen, Zeit für den Aufbruch ins Abenteuer.
Ankunft in Grönland
Pünktlich beginnt der Landeanflug auf das Rollfeld, das gleich hinter der Küste von Narsarsuaq beginnt. Durch das Fenster sehe ich auf das türkisblaue Wasser mit den riesigen Eisbergen hinunter. Kurze Zeit später setzen Simon und ich unsere Füsse auf grönländischen Boden. Das Dorf Narsarsuaq erwacht mit jedem internationalen An- und Abflug zum Leben. Die Cafeteria öffnet, verkauft Hotdogs und Getränke, das Gate wird kurz bedient. Sind die Reisenden weg, wird der Flughafen zum Geisterhaus.
Ich hole das Gepäck vom Förderband und eile zum kleinen Café, das gleich neben dem Flughafengebäude steht. Hier habe ich die Gaskartuschen zum Kochen reserviert. Mit vollen Taschen geht es zurück zum Flughafen. Erstmals erleben wir, dass in Grönland die Uhren anders ticken. Deutlich verspätet fährt ein klappriger Bus vor, der ein Dutzend Passagiere an den Hafen bringt, denn die Reise geht mit einem kleinen Passagierschiff weiter. Das Boot tuckert in ruhigem Wasser um die Eisberge. Auf offener See fahren wir durch Nebelbänke, vorbei an tiefen Fjorden und hohen Bergen.
Nach vier Stunden und einem Zwischenhalt in Qaqortoq erreichen wir Nanortalik. Das Dorf schlummert unter dem dicken Nebel, die Strassen sind menschenleer. Am Pier warten wir auf Henrik. Wir sind pünktlich. Aber wo bleibt er? Auf meine Textnachricht reagiert er nicht. Nach langem Warten rufe ich ihn an, und trotz Problemen mit der Kommunikation winkt uns bald jemand von der anderen Hafenseite zu – das muss Henrik sein. Die Begrüssung fällt eher trocken aus. Nach einem kurzen Gespräch bringt er uns zu seiner Wohnung. Das heutige Ziel ist erreicht. Mit der Ungewissheit, was uns am nächsten Tag erwartet, schlafe ich ein.
Im Basislager
Der Tag erwacht, draussen ist es noch neblig und kalt. Mir ist heute nicht danach, in den Fjord zu fahren. Jetzt wäre noch Zeit umzukehren, auszusteigen. Zweifel kommen auf. Umkehren? Nein, genau dafür sind wir hier: Um Unbekanntes zu entdecken, die Komfortzone zu verlassen, Abenteuer zu erleben.
Mit dem kleinen Boot «Bibi» verlassen wir Nanortalik. Henrik navigiert gekonnt durch die Wasserlandschaft des Tasermiut-Fjords. Ab und zu sehen wir eine Robbe auftauchen. Wir fahren an Eisbergen vorbei. Nach zwei Stunden erreichen wir den Anlegeplatz. Grüne Zelte stehen in der Bucht. Sind wir nicht die Einzigen hier? Henrik erklärt uns, dass die Zelte einem spanischen Expeditionsanbieter gehören. Da ist aber noch ein orangefarbenes Zelt. Wem gehört der Farbtupfer auf der Anhöhe? Niemand ist zu sehen. Egal, wir verabschieden uns von Henrik und suchen uns einen Platz für unsere Zelte.
Der Nebel lichtet sich langsam, und vor uns erhebt sich die tausend Meter hohe Granitwand des Ulamertorsuaq, für Bergsteiger eine der sagenumwobenen «Big Walls». Beeindruckend, wie sich der Berg gleichmässig in die Höhe windet wie ein Totem aus Granit. Da sind wir nun, im Fjord, fernab von Zivilisation und auf uns selbst gestellt.
Simon und ich richten uns ein, stapeln Steine zu einer Mauer, die uns als Windschutz und als Kochnische dient. In die Arbeit vertieft, bemerken wir nicht, dass sich uns jemand nähert. Eine junge Frau stellt sich als Federica vor. Sie ist eine erfolgreiche Kletterin aus dem italienischen Aostatal. Nach der kurzen Konversation werkeln wir weiter an unserem Basislager. Edoardo, ihren Kletterpartner, lernen wir später kennen. Er ist ebenfalls aus dem Aostatal.
Die Italiener sind hier, um eine neue Kletterroute am Nalumasortoq einzurichten. Nun ist uns klar, wer im orangefarbenen Zelt übernachtet. Rund um ihr Basislager stehen ein Notstromgenerator, eine gut eingerichtete Sitzecke und Unmengen an Vorräten und Klettermaterial.
Das Wetter wird von Tag zu Tag besser. Wir erkunden die nahe Umgebung und fotografieren am Morgen und Abend bei schönstem Licht. In der Nacht klingelt der Wecker alle halbe Stunde. Wir werfen einen Blick aus dem Zelt. Kein Nordlicht ist am Himmel zu sehen. Also schlafen wir weiter bis zum nächsten Weckerläuten. Tagsüber geniessen wir das Wetter und erholen uns von der ruhelosen Nacht. Die grossen aufgewärmten Steine sind ideale Liegeflächen, und unser Solarpanel lädt die ersten leeren Akkus auf.
Eines nachts rüttelt es an unserem Zelt, und draussen schreit Edoardo herum. Zuerst denke ich, dass es sich um einen Notfall handelt. Weit gefehlt. Falscher Nordlichtalarm. Der helle Vollmond leuchtet vom Himmel. Da ich nun schon mal wach bin, schiesse ich ein paar Fotos und krieche anschliessend zurück ins Zelt.
Trekking ins Klosterdalen
Nach drei Tagen im Basislager bereiten wir uns für den Ausflug ins Klosterdalen vor. Das Klosterdalen ist ein Seitental im hinteren Teil des Fjords. Im 14. Jahrhundert war es besiedelt. Es gab ein Augustinerkloster, dem das Tal seinen Namen verdankt.
Ich nutze den Nachmittag, um den ersten Kilometer der Strecke zu erkunden. Die Route verläuft anfangs durch Tundra mit kleinen Sümpfen. Den restlichen Streckenverlauf planen wir anhand der Karte. Knapp sieben Kilometer beträgt die Distanz, wir rechnen wegen des schweren Gepäcks mit drei bis vier Stunden Marschzeit.
Am nächsten Morgen bauen wir ein Zelt ab. Wir lassen alles, was wir nicht benötigen, in unserem zweiten Zelt im Basislager zurück und brechen mit unseren Rucksäcken auf. Ich gehe voran, schreite über den kargen Boden, bis wir plötzlich vor einer dichten Buschlandschaft stehen. Kein Weg führt daran vorbei. Ein Arbeitskollege, der vor Kurzem zum Fischen in Südgrönland war, hatte mir wilde Storys über die dichte Vegetation erzählt. Hier ist sie – und wie!
Das stark verzweigte Astwerk stosse ich mit der Hand zur Seite. Senken im Terrain sind unter der dichten Bodenvegetation unsichtbar. Der Tritt geht ins Leere. Wie Betrunkene wanken wir durch das Gelände, zu Beginn noch akrobatisch, bald kraftloser. Ich stehe auf einen grossen Ast und spüre, wie sich ein anderer Ast am Rucksack festhakt und wie ein Pfeilbogen spannt. Einen Augenblick später verliere ich die Balance. Der Schwung des Astes katapultiert mich in den nächsten Graben.
Simon krümmt sich vor Lachen. Doch wir müssen weiter. Aus dem lustigen Spiel wird langsam ein erbitterter Kampf gegen die Vegetation. Fluchend schlagen wir uns durch das Unterholz. Vier Stunden sind wir unterwegs, die Büsche erscheinen übermächtig. Wir brauchen längere Pausen, um zu neuen Kräften zu kommen. Doch: Die jetzt dringend benötigten Energieriegel sind nicht im Rucksack, sondern im Basislager liegengeblieben. Diese Kalorien werden uns die nächsten Tage fehlen.
Über den Autor
Christoph Schlatter (37), lebt in Wabern bei Bern. Er fotografiert nebenberuflich und sucht sich seine Reiseziele immer nach den schönsten Fotomotiven aus. Am meisten faszinieren ihn unberührte Landschaften in abgelegenen Gegenden.
Wie geht die Geschichte weiter?
Die beiden schaffen es ins Klosterdalen und erleben dort ein grünes Wunder, bevor sie ihre Zelte wieder abbrechen und zurück ins Basislager trekken. Doch dort ist die Geschichte noch nicht zu Ende…