Therapie mit Langzeiteffekt

Eine Reise voller Leidenschaft und Nudelsuppen: Valentine und Christoph von Toggenburg radeln 3500 Kilometer weit durch vier asiatische Länder und überwinden dabei 65 000 Höhenmeter. Das gemeinsame Abenteuer der frisch Verliebten endet auf dem Standesamt!

Ausgabe: 146  Text und Bilder: Valentine und Christoph von Toggenburg 

Ein Lift in Genf. Hier laufen Valentine und ich uns zum ersten Mal über den Weg. Sie ist meine neue Nachbarin. Ich bin verschwitzt und komme direkt vom Joggen. Sie trägt Anzug, ist bereit fürs Anwaltsbüro. Es ist eine Begegnung, die unser Leben verändert. Bald erwacht die Sehnsucht nach einem gemeinsamen Abenteuer in uns. Wir entscheiden uns, die Jobs zu kündigen und aufzubrechen. Vieles verbindet uns, insbesondere die Leidenschaft, anderen Menschen zur Seite zu stehen. Valentine organisiert Sommerlager für behinderte Menschen im Nahen Osten. Und ich bereise die Welt auf humanitären Einsätzen und Expeditionen.

«Warum ziehen wir nicht mit dem Bike los?», fragt Valentine eines Tages. Ihre Frage erstaunt mich. Sie hat sogar in Genf Angst, Fahrrad zu fahren. «Bist du sicher?», frage ich

«Ja!», ist ihre Antwort. Und so verlassen wir Genf eineinhalb Jahre nach unserer Begegnung im Lift mit einem One-Way-Ticket nach Vientiane in Laos. Wir sind uns bewusst, dass dieses Abenteuer auch das Ende unserer Beziehung bedeuten kann. Als wir durch die Passkontrolle schreiten, ruft Valentine: «No risk, no fun!»

Blutiges Knie

Vom ersten Moment an sind wir begeistert von Land und Leuten in Laos. Nach Jahren voller langer Arbeitstage erscheint die Zen-geschwängerte Ruhe hier fast unwirklich. Laos ist etwa sechsmal so gross wie Schweiz, aber es leben nur ungefähr gleich viele Menschen hier wie bei uns zu Hause. Grosse Teile des Landes sind von Dschungel überzogen, und die Menschen leben ein einfaches, aber angemessenes Leben. Laos ist ein kommunistisches Land. Hauptreligion ist der Buddhismus.

Ein paar Tage geniessen wir die Zeit in Vientiane, lassen uns weich massieren, essen gut und schrauben unsere zweirädrigen Transportmittel zusammen. Tausende Kilometer werden sie uns jetzt tragen müssen.

Ohne Herausforderungen beginnt die Reise natürlich nicht. Bereits in den ersten Tagen fällt Valentine zweimal hin und schlägt sich das Knie blutig. Ich frage mich, ob sie das Fahrrad nun in den nächstbesten Strassen­graben werfen wird. Aber mit einem Urschrei und ein bisschen Salbe auf den Wunden kehrt die Moral zurück. Valentine schaut auf und sagt: «Wann fahren wir weiter?» Wow, erster Stresstest bestanden. Was für eine Frau!

Je weiter wir fahren, desto saftiger wird die Landschaft. Der Dschungel erhebt sich entlang der Strassen wie grüne Mauern. Laos ist beliebt bei Radreisenden, da die wenigen Strassen relativ gut ausgebaut sind und es kaum Verkehr hat. So treffen wir immer wieder Radlerinnen und Radler aus aller Welt, von skurril bis zu hyper-ambitiös. Der Kontakt ergibt sich ganz von selbst, denn es gilt als ungeschriebenes Gesetz bei Pedalreisenden, stehen zu bleiben und sich auszutauschen. Das hilft nicht nur, aus erster Hand etwas über die kommenden Kilometer zu erfahren, sondern auch, spannenden Menschen von überall auf der Welt zu begegnen.

Uns interessiert ganz besonders die Frage nach dem Warum. Womöglich ist die Antwort auf die Frage das, was ein alter Freund von mir einmal Velosophie genannt hat: Im Sattel ist man König und Bettler zugleich. Die Unabhängigkeit, die das Rad mit sich bringt, ist unschlagbar. Man verschmutzt die Umwelt kaum und ist verantwortlich für jeden Pedal­tritt. Der Wind im Gesicht, die Sonne auf der Haut und die Nähe zu Mensch und Natur schaffen eine einmalige Greifbarkeit. Als Fahrradfahrer wird man von den Menschen sofort authentisch wahrgenommen. Das führt zu tiefer Demut und Freude, denn man ist den Elementen ausgesetzt und wird verletzlich. Man weiss, warum man am Ende des Tages müde ist. Und das Fitnessprogramm ist inklusive.

Hier in Südostasien fahren sehr viele Menschen Rad, da sie sich Motorrad, Auto oder Bus nicht leisten können. Ein Europäer, der bei Einbruch der Dunkelheit auf einem bepackten Fahrrad voller Dreck an den Beinen in einem 300-Seelen-Dorf ankommt, weckt Interesse. Die Tatsache, dass er Hunger hat und ein Dach über dem Kopf sucht, muss gar nicht ausgesprochen werden. Falsche Höflichkeit oder irritierende Abzockerei werden zur totalen Ausnahme. Obwohl die Begegnung zwischen den Laotinnen und Laoten und uns aufgrund der Sprachbarriere anfangs etwas holpert, bekommen wir nach angeregter Diskussion mit Händen und Füssen alles, was wir brauchen.

Das Fahrrad, dieses schlichte Fortbewegungsmittel, lädt also ein, die Schönheit der Einfachheit mit Mitmenschen zu teilen. Wir reisen gerade so schnell, um die Veränderung zu spüren, aber auch langsam genug, um der Seele zu erlauben, Schritt zu halten. Zeit auf dem Fahrrad führt zu innerer Reinigung. Ohne es zu wollen, kommen verborgene Gefühle, Ängste und viel Unverarbeitetes zum Vorschein, was wir im normalen Alltag einfach zur Seite drücken können. Das ist nicht immer leicht, aber fühlt sich an wie eine (Verarbeitungs-)Therapie mit Langzeiteffekt.

Irischer Bauer

Unterwegs treffen wir viele spannende Weltradler. Da ist zum Beispiel John, ein irischer Bauer, der fünf Monate im Jahr Erdbeeren anbaut und den Rest der Zeit auf dem Rad sitzt. Dann Philippe und Geraldine aus Frankreich, die bereits seit fast einem Jahr unterwegs sind. Obwohl die Preise für die einfachen Unterkünfte hier umgerechnet zwischen fünf und sieben Schweizer Franken betragen, haben die beiden beschlossen, immer im Zelt und im Schlafsack zu übernachten.

Wir treffen auch Rock aus Chamonix. Er ist Ski­lehrer, Bergführer und echter Leistungssportler. Sein «Racing Tourer» ist ein wunderschönes Rad, mit geländefähigen, schlanken Reifen, die Taschen sind in den Rahmen integriert. «Ich habe nur drei Wochen Zeit und möchte mindestens vier Länder schaffen», sagt er.

Die skurrilste Begegnung ist jene mit einem jungen Paar aus Belgien, Paul und Marie. Die beiden sind seit vier Jahren mit einem Tandem unterwegs. Zwischendurch wurde Marie schwanger und brachte in Nepal ein Kind zur Welt. Mit dem Baby im Arm erklärt sie: «Paul hat das Liegetandem so umgebaut, dass der zweite Platz zu einer Babyliege wurde.»

Als wir weiter Richtung Süden fahren, treffen wir einen jungen Dänen, der uns rät, auf das Bolaven-Plateau zu fahren. Er sagt, es sei das Paradies auf Erden. «Paradies klingt doch gut», erwidern wir und strampeln von Pakse hinauf auf das Hochplateau, das für seinen Kaffee und seine über 80 Wasserfälle bekannt ist. Wir werden nicht enttäuscht. Am zweiten Tag lernen wir ein deutsches Paar kennen, das uns rät, eine Offroadpiste in den Dschungel zu nehmen. Mehrere Stunden lang folgen wir einem Pfad, von dem wir nicht wissen, wohin er uns führen wird. Auf einmal stehen wir vor ein paar einfachen Holzhütten, die nahe einer Schlucht hingestellt worden sind. Wir lassen unsere Bikes stehen und folgen einem steilen Weg.

Links und rechts stehen dichte Bambusstauden. Und immer wieder Schilder, die vor Giftschlangen warnen. Schliesslich kommen wir aus dem Dschungel und stehen vor einem 60 Meter hohen Wasserfall, der alles übertrifft, was wir bisher gesehen haben. Das Wasser strömt direkt aus dem Wald und fällt in ein klares Becken. Die ganze Umgebung des Wasserfalls ist bedeckt von bunten Blumen. Ein Regenbogen steht am Himmel, verursacht durch die feinen Wasserpartikel. Wir stehen nur da und bewundern dieses Wunder der Natur. Uns kommen die Tränen, so schön ist es.

Humanitäre Expedition

Einige Tage später überqueren wir die Grenze nach Kambodscha. Mit einem Schlag wird das Leben hektischer und die Strassen befahrener. Kaum zu fassen, dass wir vor Kurzem noch an einem der unberührtesten Orte der Welt standen und uns dann plötzlich zum Sonnenaufgang bei Angkor Wat mit Tausenden anderen Touristen wiederfinden. Das Licht der vielen Smartphones scheint stärker als die langsam aufgehende Sonne.

Bevor wir Kambodscha Richtung Indien verlassen, besuchen wir eine der Leprastationen, die ich mit der humanitären Expedition «Bike for Help» vor 15 Jahren unterstützt habe.

Auf unserer Reise wollen wir nicht nur Eindrücke sammeln. Wir wollen das, was wir tun – oder eben nicht tun – bewusst und dankbar erleben und auch Menschen in Not aktiv beistehen. So unterstützen wir während eines Monats den Banyan, Indiens grösste Organisation für obdachlose psychisch erkrankte Menschen, mit unserer Expertise in Management, Recht und Kommunikation.

Bis heute hat der Banyan Tausende Menschen von den Stras­sen geholt, mehr als 70 Prozent konnten in ihre Familien und Gemeinschaften reintegriert werden. Da ist zum Beispiel Shanti. Vermutlich hat sie ihr ganzes Leben auf Müllhalden gelebt und sich ausschliesslich von Abfall ernährt. Sprechen kann sie nicht. Sie gibt nur Laute von sich.

Eines Tages, während einer Arbeitssitzung, stürmt sie in das Zimmer, trinkt den alten Kaffee aus und durchsucht den Mülleimer nach Essbarem. Sobald man sich ihr nähert, geht sie in Schutzstellung, vermutlich ein Zeichen dafür, dass sie früher Opfer von Gewalt und Missbrauch wurde. Dann gibt es auch die Story von Amilie and Jaqueline, zwei Schwestern, die beide aufgrund psychischer Erkrankungen obdachlos wurden. Dank intensiven Therapien konnten sie in ihr Dorf zurückkehren und haben dort nun ein Zentrum für geistig verstörte Menschen aufgebaut.

Wie geht die Geschichte weiter?

In Indien wird den beiden bewusst, dass sie für immer zusammenbleiben und heiraten wollen. Die Freunde vom Banyan organisieren eine traditionelle Verlobungszeremonie, und dann geht die Reise weiter nach Nepal. Hier wartet eine grosse Herausforderung: Ein Vipassana-Schweigeretreat. Weiter geht es ins Königreich Mustang und durch knietiefen Schlamm. Auf der letzten Etappe wartet eine besondere Herausforderung auf die beiden, bevor sie sich dann zurück in der Schweiz ganz offiziell das Ja-Wort geben.

Über die Autoren

Valentine (34) und Christoph von Toggenburg (46) sind in Freiburg und in Graubünden aufgewachsen. Beide setzten sich in unterschiedlichsten Formen für Bedürftige ein, weltweit. Valentine leitete jahrelang Sommercamps für behinderte Menschen im Nahen Osten. Sie ist Anwältin im Antikorruptionsbereich und arbeitet in Zürich. Christoph war früher CEO des Kinderhilfswerks World Vision Schweiz und Liechtenstein und ist nun weltweit verantwortlich für Menschenrechte und Social Impact bei einem internationalen Unternehmen in Zug. Beide haben in vielen Ländern gelebt und gearbeitet. Christoph war während zehn Jahren unter anderem für das IKRK und die UN in Kriegsgebieten tätig.

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