Dem Rückgrat Südamerikas entlang

Der deutsche Fotojournalist Heiko Beyer reiste viele Jahre lang immer wieder nach Südamerika. Ein grosser Traum stand aber noch auf seiner Bucket List: eine Reise der ganzen Andenkette entlang, vom Pico Humboldt in Venezuela bis ans chilenische Kap Hoorn.

Ausgabe: Nr. 124     Text & Fotos: Heiko Beyer

Als ich als Student mein in Nachtschichten im Glaswerk mühsam verdientes Geld in ein Flugticket nach Santiago de Chile investierte und das erste Mal meinen Rucksack packte, ahnte ich nicht, dass diese allererste Reise in die Bergwelt der Anden der Beginn einer grossen Leidenschaft werden sollte.

15 Jahre nach dieser ersten Rucksacktour hatte ich die Anden auf mehreren Reisen in grossen Teilen kennengelernt. Jetzt war es langsam Zeit, meinen grössten Traum zu verwirklichen: Ich wollte den mit 7000 Kilometern längsten Gebirgszug der Welt von Nord nach Süd bereisen. Es war eine Reise, deren Planung mich herausforderte, wollte ich doch auch anstrengende und schwierige Expeditionen mit der Besteigung von Sechstausendern und Trekkings in entlegene Winkel der Kordilleren unternehmen. Streckenweise war ich mit Begleitern unterwegs, oft aber alleine. Die prägendsten Abschnitte waren die, wenn ich Neuland betrat und Entdeckergeist in mir spürte, wenn ich an eigene Grenzen stiess und wenn mich ganz neue Erfahrungen zum Staunen brachten.

Blitzgewitter in Venezuela

El Vejia ist ein schwüler Ort unweit der Küste Venezuelas. Ich sitze in einem kleinen stickigen Hotelzimmer. Der verstorbene Hugo Chávez erklärt mir aus einem alten Röhrenfernseher in der wohl tausendsten Wiederholung die glorreichen Errungenschaften des Sozialismus. Vier Jahre nach Chávez’ Tod und unter der Nachfolge seines «Kronprinzen» Maduro leiden die Menschen Venezuelas bitter unter den Folgen einer ideologisch verklärten und weltfremden Politik. Ich sehe lange Schlangen vor fast leeren Supermärkten und trage Bündel von Geldscheinen in meinem Rucksack herum. Geld, das nur noch wenig Wert hat.

Hier startet also meine lange Reise. Eine Reise, die mich in mehreren Monaten durch die Anden dahin bringen soll, wo sich der Kontinent ganz im Süden im Meer verliert.

Nach einer schwülen Nacht ohne viel Schlaf und einer vierstündigen Fahrt zum Maracaibo-See organisiere ich mir ein kleines Boot. Mein eigentliches Ziel liegt im Sumpfgebiet des Sees und trägt den malerischen Namen Congo Mirador. Ein kleines Dörfchen, dessen Häuser auf hölzernen Stelzen stehen. Ich habe gehört, dass am Maracaibo-See, der zwischen den nördlichsten beiden grossen Andenkordilleren eingebettet liegt, an über 300 Tagen im Jahr nachts die heftigsten Gewitter dieser Erde wüten sollen. Diese werden durch Fallwinde verursacht, die von den kalten Bergketten hinunter ins Flachland blasen.

In Congo Mirador suche ich mir erst mal eine Bleibe für die Nacht. Ich frage herum, und man verweist mich an Denni, einen kugelrunden und freundlicher Fischer. Ihm gehört ein grosses Haus am Rande des Dorfes. Als Junggeselle hat er viel Platz und ein freies Zimmer für mich. In den nächsten zwei Wochen lerne ich das Dorfleben von Congo Mirador kennen. Kinder planschen, Männer stehen im flachen Wasser und rasieren sich, Frauen waschen gleich nebenan die Wäsche, und Schweine rennen über die flachen Uferareale.

Abends, wenn die drückende Schwüle den ersten aufkommenden Winden weicht, erscheint am Horizont jeweils oranges und rotes Wetterleuchten. Nach und nach kommen sie näher – gespenstisch, bedrohlich und doch gleichzeitig faszinierend: die Gewitter von Catatumbo. Die Blitze jagen stroboskopähnlich aus pilzartigen Wolkengebilden. Gewaltige Donnerschläge übertönen das Quaken der Frösche und das Zirpen der Zikaden. Ich wage mich mit meinen Kameras in die verlandeten Uferbereiche am Rande des Dorfes, fühle mich aber nicht wirklich sicher: Die Blitze krachen oft nur wenige Hundert Meter von mir entfernt in den See.

Nach diesen elektrisierenden Tagen drängt es mich, endlich die kühle Luft der Anden zu atmen. Mein Ziel: der zweithöchste Berg Venezuelas, der Pico Humboldt, der im Sierra- Nevada-Nationalpark liegt. Zu Beginn des Trekkings bin ich im Tropenwald unterwegs, dann schwindet das dichte Grün, und ich befinde mich über der Baumgrenze. Die Luft wird dünner, das Atmen fällt schwerer. Doch ich geniesse den Moment: Ich bin das erste Mal in den venezolanischen Anden! Eingerahmt von hohen Bergen, liegt ein Hochtal vor mir, darin eingebettet die Laguna Verde, ein grüner See. Ein guter Platz für mein Zeltbasislager zur Besteigung des Pico Humboldt mit dem einzigen verbliebenen Gletscher Venezuelas.

Um drei Uhr nachts klingelt der Wecker. Dann quäle ich mich, schwer atmend, durch die Dunkelheit. Als die aufgehende Sonne die Bergzüge um mich herum rot färbt, überquere ich gerade den Gletscher. Schliesslich stehe ich auf dem 4940 Meter hohen Gipfel. Ich fühle mich stolz, frei und glücklich, denn ich weiss: Venezuela, dieses überwältigend schöne, leider im Moment so gebeutelte Land ist erst der Anfang meiner Reise, die mich schon in wenigen Tagen über die Grenze nach Kolumbien bringen wird.

Über den Autor

Heiko Beyer Beyer ist gelernter Mikroelektronikingenieur, hat aber schon vor 25 Jahren seine Leidenschaft fürs Reisen und die Fotografie zum Beruf gemacht. Er ist als Fotojournalist, Produzent und Vortragsreferent tätig und lebt im deutschen Erlangen. Mit seinen Live-Multivisionen, bei denen meist der südamerikanischen Kontinent im Fokus steht, ist er auf den Bühnen des deutschsprachigen Raums unterwegs.

www.vision21.dewww.die-anden.de

Wie geht die Reise weiter?

Der Pico Humboldt bleibt nicht der einzige Höhepunkt auf Heikos Andenreise. Richtung Süden durchquert er Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien, Argentinien und landet schliesslich in Chile, wo er auf der Felseninsel Hornos auf 7000 ereignisreiche Kilometer zurückblickt. Unterwegs trifft er auf Cholita-Wrestlerinnen, Schamanen, Gauchos und andere Menschen, mit denen er so manches Abenteuer erlebt.

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