Unterwegs mit Rucksack, Zelt und Gleitschirm

Die schönsten Geschichten fangen mit Mut an. Jamila und Florian gaben ihr gewohntes Leben auf und zogen hinaus in die Welt. Nach 19 Monaten Weltreise beschlossen sie, noch vier Monate in Norwegen anzuhängen. Diesmal mit dem Gleitschirm im Gepäck.

Ausgabe: Onlinereportage     Text und Fotos: Florian Bernauer und Jamila Bräunlich

 

Eigentlich sollte man meinen, dass wir uns nach 19 Monaten Weltreise mit dem Gepäck auskennen. Aber jetzt kommt die Gleitschirmausrüstung dazu. Wir müssen nochmals radikal an Gewicht und Packmass sparen. Wir überlegen, recherchieren, wiegen ab, kalkulieren mit Excel-Tabellen – und streichen systematisch Dinge von der Liste. Als wir Ende Mai in Bayern vor unserer Haustür starten, wiegen unsere Rucksäcke einschliesslich Flugausrüstung, Zelt, Kocher, Schlafsack und Kleider tragbare 18 Kilo.

Innerhalb von fünf Tagen erreichen wir per Anhalter Norwegen. Das Wetter sieht vielversprechend aus und wir machen uns schon am frühen Morgen auf den Weg nach Egge, ein kleines Dorf 30 Kilometer westlich von Oslo. Nach einem kurzen Aufstieg erreichen wir den Startplatz Eggekollen. Ein paar Piloten machen sich gerade startbereit und geben uns eine Einführung in das Fluggebiet. Mit Blick auf den Fjord gleiten wir über eine Stunde am Berg entlang. Ein guter Start für unsere Tour.

In den nächsten Tagen ist von neblig, regnerisch, stürmisch bis sonnig alles dabei. Immerhin: bei 18 Stunden Tageslicht steigen die Chancen, ein Zeitfenster zum Fliegen zu erwischen. Gleitschirmfliegen in Norwegen erfordert ebenso viel Geduld wie Spontaneität.

Perspektivenwechsel als Reisephilosophie

Ein paar Tage später nimmt uns Eric in seinem Auto mit. Als wir ihm von unserer Reise, von HelpX und Couchsurfing erzählen, bietet er uns an, in seinem neuen Ferienhaus zu wohnen. Als Gegenleistung misten wir drei Stunden lang den Ziegenstall aus. Der Misthaufen vor der Tür wird immer höher und wir immer stinkiger. Doch nach einer heissen Dusche und einem Glas Rotwein ist die Schinderei schnell vergessen.

Weiter nördlich in Vågåmo liegt eines der bekanntesten Streckenfluggebiete Norwegens. Ausnahmsweise scheint heute den ganzen Tag die Sonne, barfuss stehen wir am Strassenrand. Ein Einheimischer nimmt uns mit zum Startplatz. Drei Drachenflieger bauen fleissig auf, die Gleitschirmflieger begrüssen uns herzlich. «Wenn ihr wollt, könnt ihr am Landeplatz neben dem Clubhaus zelten», sagen sie. Die Offenheit und Herzlichkeit, mit der wir empfangen werden, ist immer wieder umwerfend. Aber die Aussicht und die Ruhe am Berg lassen uns ablehnen. Gemeinsam warten wir auf schwächeren Wind. Vergeblich: Starkwind gehört fest zu Norwegen.

Leben und arbeiten auf der Farm

Immer wieder ändern wir spontan unsere Route und reisen im Zickzack durchs Land. Nach Voss (viel Regen!) und der Hafenstadt Bergen (viele Touristen!) sind wir mittlerweile auf dem Weg nach Ænes. Hier möchten wir die kommende Woche auf einer Farm arbeiten. 15 Kilometer vor dem Ziel jedoch wird das Wetter schlecht. Es regnet in Strömen und viele Autos fahren vorbei, ohne uns zu beachten. Nach zwei Stunden bleibt der Nachbar unseres Farmers stehen. So lange mussten wir bisher noch nie warten.

Nach vielen Nächten im Zelt geniessen wir endlich eine heisse Dusche, ein gemütliches Bett und vor allem leckeres Essen. Es ist eine gute Abwechslung zu unserer eintönigen Campingküche, bestehend aus Müsli, Brot, Pasta und Couscous.

Nach getaner Arbeit machen wir uns auf den Weg nach Rosendal. Am Ufer von Dimmelsvik befindet sich ein grosser Landeplatz, nicht weit entfernt vom Einstieg unserer heutigen Tour. Der Wanderweg schlängelt sich am Bergkamm entlang, bis man oberhalb der Baumgrenze mit einem umwerfenden Panorama belohnt wird. Lichter tanzen auf der Wasseroberfläche des Fjordes.

Über eine Holfuy-Wetterstation checken wir erneut den Wind: 35 km/h in Böen. Also gut: runterlaufen, gehört auch dazu. Das Wetter in Norwegen ist immer wieder für eine Überraschung gut. So etwas passiert uns nicht zum ersten Mal. Zum Glück ist es bei knapp acht Kilo Flugausrüstung nicht ganz so ärgerlich.

Am nächsten Tag versuchen wir erneut unser Glück am Kviteggi. Der Wind passt und wir starten raus. Es ist nur ein kurzer Abgleiter, aber wir sind froh, in die Luft zu kommen. Am Ufer des Fjordes treffen sich die Einheimischen zum Feiern. Es ist Mittsommer, ein Feuer brennt und wir werden zum Grillieren eingeladen. Alle geniessen die warmen Sonnenstrahlen auf dem Steg. Kurzerhand entschliessen wir uns, den Fjord mit dem Kajak zu erkunden. Zum Sonnenuntergang werden wir von etlichen Schweinswalen überrascht. Zum Atmen tauchen sie immer wieder auf und geben pfeifende Geräusche von sich.

Das touristische Mega-Trio

Kein Flugwetter heisst nicht, dass kein Wetter zum Wandern wäre. So nutzen wir die Zeit und erkunden die drei wohl bekanntesten Selfie-Spots Norwegens: Preikestolen, Kjeragbolten und Trolltunga. Die Tour zur Trolltunga (Trollzunge) wird meist mit acht bis zwölf Stunden ausgeschrieben. Da wir unser Zelt dabei haben, starten wir erst am späten Nachmittag. Drei Kilometer vor dem Ziel finden wir unseren Traum-Campingplatz: tolle Aussicht, eigener Wasserfall und genügend Abstand zum Wanderweg. Schnell stellen wir das Zelt auf und laufen mit nur kleinem Gepäck zur Trolltunga. Am späten Abend stehen wir auf dem Felsvorsprung. 700 Meter geht es unter uns in die Tiefe!

Der legendäre Gesteinsbrocken Kjeragbolten hängt in einer Felsspalte 1000 Meter über dem Abgrund und wartet scheinbar nur aufs Runterfallen. Die Anfahrt durchs Tal an steilen Felswänden und unzähligen Wasserfällen vorbei macht Lust aufs Wandern. Bei tiefhängenden Wolken laufen wir los und werden bei stürmenden Wind bald von Regen und Schneegraupel eingeholt. Am Kjeragbolten weht der Wind einen über 700 Meter hohen Wasserfall nach oben. Ein beliebter Ort für ein mutiges Selfie – heute noch mehr als sonst!

Die Nummer drei der Must-Sees aller Norwegenreisenden ist der Preikestolen (Predigtstuhl), ein Felsplateau mit senkrechter Kante gut 600 Meter über dem Lysefjord. Nach einigen verregneten Tagen im Wald, freuen wir uns auf eine Bergübernachtung. Der Parkplatz ist unglaublich voll. Oben angekommen lädt uns ein Pärchen aus Russland auf Schokolade und heissen Tee ein. Die Beiden wollen ebenfalls hier oben übernachten.

Tags darauf kitzeln uns die ersten Sonnenstrahlen um fünf Uhr aus dem Zelt. Nur wenige Leute laufen herum und fotografieren. Dabei ist es fast zu schön, um den magischen Sonnenaufgang mit Bildermachen zu ruinieren.

Faszination Fjorde

Wir geniessen die Unabhängigkeit und die Freiheit, unsere Route jederzeit ändern zu können. So bleiben wir in Lofthus im Sørfjord hängen. Unterhalb eines Wasserfalls stellen wir unser Zelt auf. Die ganze Woche ist gutes Wetter vorhergesagt und wir sind froh, zur richtigen Zeit hier zu sein.

Steil führt ein Pfad durch den Wald hinauf. Nach drei Stunden Schnaufen und Schwitzen erreichen wir den Startplatz Nosi. Die Windfahne tänzelt fröhlich im Wind. Nach dem Start zieht es uns gleich hoch bis an die Wolken. Stundenlang fliegen wir zwischen zwei grossen Wasserfällen hin und her, geniessen die Sicht auf das Hochplateau. Fast eine Woche bleiben wir in dem Gebiet und laufen täglich über verschiedene Routen zum Startplatz. Am letzten Tag werden wir von einem einheimischen Piloten an der Landewiese abgeholt und können in seinem Pick-up mit zum unteren Startplatz fahren.

Mittlerweile sind wir seit zwei Monaten in Norwegen unterwegs. Meist wurden wir schnell mitgenommen und durften schon einige Male die Gastfreundschaft der Norweger erleben. Bis zur Inselgruppe der Lofoten sind es 1000 Kilometer und natürlich wollen wir auch diese per Anhalter zurücklegen. Zu sehr geniessen wir den Kontakt zu den Einheimischen und anderen Reisenden. So treffen wir Christian, ebenfalls Gleitschirmpilot. In seinem Wohnmobil legen wir die restliche Strecke zurück. Er freut sich über die Unterhaltung, und wir lassen bei einem gemütlichen Essen den ersten Abend auf den Lofoten ausklingen.

Blauer Himmel, Sonnenschein – aber starker Wind. Mit dem gesamten Gepäck und Essen für mehrere Tage geht es über die Berge. Das Gewicht macht das Wandern mühsam. Unser Ziel ist die malerische Bucht Kvalvika. Hier bleiben wir drei Tage, sonnen uns am Strand und erkunden die Gegend. Eine Quelle bietet frisches Wasser vom Berg. Grosse Greifvögel ziehen ihre Kreise in der Luft. Neidisch blicken wir hoch, dieses Mal haben wir die Gleitschirme wohl umsonst mitgenommen. Abends erklimmen wir den Ryten. Im Windschatten der Felsbrocken bestaunen wir die Aussicht auf die Strände. Die Mitternachtssonne lässt das Meer golden leuchten.

Jeden Tag besteigen wir einen anderen Berg. Das Wetter ist beständig, aber auch beständig zu windig zum Fliegen. So wandern wir eben – auf den Munken, den Tindstinden und den Reinebringen. Die nächsten Tage verbringen wir in Flakstad. Es ist nur ein kurzer Aufstieg zum Startplatz. Der Seewind hilft uns, in die Höhe zu kommen. Schnell ist die Wolkenbasis erreicht. Das Wasser leuchtet türkis, Seeadler kreisen im Wind und suchen nach Nahrung.

Nicht nur einmal treffen wir andere Hitchhiker auf den Lofoten. Hier ist das Trampen noch nicht ausgestorben. In Myrland, einem verschlafenen kleinen Nest, lebt unser nächster Couchsurfer-Gastgeber. Die Berge hinter seinem Haus laden ein zum Gleitschirmfliegen. Ob hier schon jemals jemand geflogen ist? Wir laufen zum Sonnenuntergang hoch und freuen uns über einen kurzen Abgleiter. Am nächsten Tag können wir bei schwachem Wind stundenlang gleiten.

Kurs Heimat

Nach zwei Wochen traumhaftem Wetter auf den Lofoten mit wundervollen Wanderungen, Hike & Fly und vielen Zeltnächten sind wir ausgepowert und gesättigt. Die letzten Monate waren anstrengend und haben uns viel Energie geraubt. Wir merken, dass es Zeit wird, uns auf den Rückweg zu machen. Zügig durchqueren wir Schweden und Finnland, setzen mit der Fähre über nach Tallinn, die Hauptstadt von Estland. Es ist das erste Mal während unserer Reise, dass wir für den Transport bezahlen.

In nur wenigen Tagen durchqueren wir das Baltikum und werden eine lange Strecke bis Krakau mitgenommen. Nach einer Stadtbesichtigung verbringen wir noch eine Woche im Süden von Polen. Am Berg Zar machen wir den letzten Flug auf dieser Reise. Wir durchqueren die Slowakei und Österreich und stehen schliesslich wieder daheim vor unserer Haustür in Oberbayern. Erschöpft. Glücklich. Zufrieden. Nein, man muss nicht bis ans andere Ende der Welt fliegen, um Abenteuer zu erleben, und braucht dazu auch nicht viel Geld.

Über die Autoren

FLORIAN (32) arbeitet seit seinem 15. Lebensjahr im Sportgeschäft, davon acht Jahre in München als Filialleiter. Er ist mit dem Bergsport aufgewachsen. Reisen und Sport gehören für ihn schon immer zusammen.

JAMILA (26) hat in Aachen Kommunikationsdesign studiert und ein Auge für gutes Design. Schon kurz nachdem sie ihren Flugschein gemacht hatte, reiste sie per Anhalter alleine mit Gleitschirm durchs Südtirol, um verschiedene Fluggebiete kennenzulernen.

www.wenigdabei.de

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