Mit Hundepower durch den Schnee
Hundeschlittenfahren hat in Russland lange Tradition. Fabian Künzel absolviert auf einer Huskyfarm an der Wolga eine Ausbildung zum Musher. Er erlebt dabei die aussergewöhnliche Verbindung zwischen Hund und Mensch.
Ausgabe: Onlinereportage Text & Bilder: Fabian Künzel
Stille. Kälte. Dunkelheit. Ich sehe nur meinen Atem im Lichtkegel der Stirnlampe. Auf einmal durchdringt das Geheule von mehr als 60 Huskys die Stille. Wir wurden entdeckt. Die Hunde wissen genau, dass es Zeit für die tägliche Portion Futter ist. Alena drückt mir zwei Futterschalen, randvoll gefüllt mit Fleisch, in die Hände und sagt: «Tuyuk! Enya!» Das sind die Namen der Hunde, für die das Futter bestimmt ist. Es ist gar nicht so einfach, die kyrillische Schrift auf den Hundehütten zu entziffern und die beiden Hunde zu finden. Hätte ich doch zu Hause konsequent das russische Alphabet gelernt. Endlich stehe ich vor der richtigen Hütte und vor Tuyuk, der in freudiger Erwartung im Schnee auf und ab springt.
«Sedjet!», sage ich in strengem Ton und Tuyuk setzt sich brav auf sein Hinterteil und wartet, bis ich den Futternapf vor ihm abstelle. Enya ist ungeduldiger. Noch bevor ich den Napf abstellen kann, stürzt sie sich auf das Futter und die Hälfte davon landet im Schnee. Ich schaue mich um und sehe, dass es den anderen Teilnehmern der Tour ähnlich geht. Nur Kosta, unser Guide, findet ohne Umwege seine Hunde und stellt die Futternäpfe ohne Zögern vor ihnen ab.
Kosta, mit vollem Namen Konstantin Sergijenko, ist in Deutschland geboren, hat aber russisch-ukrainische Wurzeln und spricht deshalb fliessend Russisch. 2017 hat Kosta mit seiner Firma «Fernwind Expeditionen» den Weg in die Selbstständigkeit gewagt. Seine Motivation ist es, anderen Menschen unvergessliche und authentische Abenteuer zu ermöglichen. Ich habe ihn vor gut einem Jahr kennengelernt. Damals habe ich mich als Fotograf selbstständig gemacht und so entstand die Idee, eine seiner Reisen zu begleiten.
Jetzt stehen wir beide zwischen 60 hungrigen Huskys in der eisigen Kälte Russlands. Kosta kommt auf mich zu. «Na, alles klar, Fabian?», fragt er mich. «Ja, aber ich zweifle, dass ich mir jemals alle Hundenamen merken kann.» Kosta lacht laut auf und übertönt damit sogar das Geheule der Huskys. «Das wird schon», erwidert er, «Charascho!». Das bedeutet auf Russisch so viel wie «Alles in Ordnung!» und wird gefühlt in jedem dritten Satz verwendet.
Willkommen in Russland
Nachdem wir gemeinsam die Hunde versorgt haben, wird es Zeit, uns drinnen aufzuwärmen. Im Holzofen prasselt ein ordentliches Feuer und auf uns wartet eine grosse Portion Borschtsch. Diese traditionelle russische Suppe mit Randenund Rindfleisch wird mit viel Schmand und einer Scheibe Schwarzbrot serviert. Genau das brauche ich jetzt.
Wir sind zu Gast auf der Huskyfarm von Svetlana und Sergeij. Die beiden haben ihren Traum einer eigenen Huskyfarm verwirklicht und vor fünf Jahren aus einem alten Pferdestall diesen wunderbaren Ort geschaffen. Einmal im Jahr veranstalten sie das internationale Hundeschlittenrennen Volga Quest. Die Hundeschlittenführer, sogenannte Musher, müssen dabei ungefähr 550 Kilometer mit ihrem Hundeteam entlang der Wolga zurücklegen. In diesem Sport kämpfen Frauen und Männer übrigens gleichberechtigt um den Sieg. Gewonnen hat nicht nur die- oder derjenige, der zuerst die Ziellinie überquert, sondern es gibt auch eine Gewinnerin oder einen Gewinner für den besten Umgang mit den Hunden.
Am Tisch stimmt uns Svetlana auf die kommenden Tage ein. Wir sind hier, um eine Ausbildung zum Musher zu absolvieren. Ziel ist es, dass wir am Ende nicht nur selbstständig einen Hundeschlitten lenken, sondern auch die Hunde verstehen und versorgen können. Bei jedem von Svetlanas Worte merkt man, wie sehr ihr das Wohl ihrer Hunde am Herzen liegt. Doch ich bemerke auch etwas Skepsis und Vorbehalt gegenüber unserer kleinen Gruppe. Immerhin ist es für sie das erste Mal, dass sie mit ausländischen Besuchern zusammenarbeitet, und dann sollen wir auch gleich für mehrere Tage die Verantwortung für ihre Lieblinge übernehmen. Ich kann ihre Bedenken verstehen.
Dogtrekking und Kommandos üben
Am folgenden Morgen lernen wir unsere Leithunde für die kommenden Tage kennen. Die Leithunde laufen vorne im Gespann und geben die Richtung und das Tempo vor. Sie zeichnen sich durch Intelligenz und einen ausgeglichenen Charakter aus. Ihre Aufgabe ist es, die Kommandos des Mushers zu verstehen und zu befolgen. Deshalb ist die Beziehung zwischen Musher und Leithund besonders wichtig. Nur wenn sie harmonisch ist, läuft das ganze Team rund.
Mir wird Tuyuk als Leithund zugeteilt. Um unsere Hunde besser kennenzulernen, gehen wir eine Runde Dogtrekken. Dabei spüre ich zum ersten Mal die unglaubliche Energie eines Huskys. Tuyuk zieht mich mühelos durch den tief verschneiten Wald, bis wir vor einem 30 Meter tiefen Abgrund stehen. Vor uns liegt die Wolga, Europas längster Fluss. Mehr als vier Kilometer breit ist er an dieser Stelle und seine Oberfläche ist komplett von Schnee und Eis bedeckt. Kosta ermahnt uns, dass wir auf dem Rückweg mehr mit unseren Hunden reden und sie loben sollen.
Immerhin muss sich unser Leithund an unsere Stimme gewöhnen. Und wir müssen die wichtigsten russischen Kommandos üben. Also spreche ich auf dem Weg zurück zur Farm immer wieder mit Tuyuk. Dabei streue ich die Kommandos «lewa» für links, «prava» für rechts, «wperjed» für gerade aus und «stoi» für Stop ein. Tuyuk hört brav auf meine Kommandos. «Maladjez» (gut gemacht!) lobe ich ihn immer wieder, ganz so, wie es Kosta uns aufgetragen hat.
Zurück auf der Farm lernen wir eine der wichtigsten Lektionen überhaupt: Dogs first! Die Versorgung der Hunde hat oberste Priorität. Wir geben den Hunden also Wasser und kontrollieren ihre Pfoten auf Verletzungen. Diese Aufgaben werden zukünftig nach jedem Ausflug zur Routine. Erst danach dürfen wir uns selbst eine kleine Stärkung gönnen. Viel Zeit zum Ausruhen bleibt jedoch nicht. Immerhin sollen wir morgen schon auf die Schlitten und dafür müssen wir uns noch mit der Technik, allen voran dem Bremsen, vertraut machen. Iliya, der Sohn von Svetlana, zeigt uns den Umgang mit Teppich, Kralle und Anker, den drei Bremsen am Schlitten.
Zum ersten Mal auf dem Schlitten
Beim Frühstück am nächsten Tag ermahnt uns Kosta, dass wir im Falle eines Sturzes niemals den Schlitten loslassen dürfen. Den Hunden ist es erstmal egal, ob sich auf dem Schlitten noch jemand befindet oder nicht. Sie würden einfach weiterrennen. Zur Sicherheit werden wir von zwei Schneemobilen begleitet. Jeder von uns bekommt für die erste Ausfahrt vier Hunde. Beim Anleinen der Hunde müssen die Schlitten mit zwei Schneeankern gesichert werden, damit die Hunde nicht voreilig davonstürmen.
Mir fällt es zunehmend schwerer, meine Nervosität zu verbergen und auch die Hunde werden unruhig. Schliesslich startet Iliya sein Schneemobil und prescht davon. Die Hunde zerren wild an ihrem Geschirr und den Leinen. Noch hält der Anker. Die anderen Teilnehmer vor mir setzen sich in Bewegung. Ich stehe mit einem Fuss fest auf der Bremse und entferne den Anker. Trotz der getretenen Bremse nimmt der Schlitten rasant an Fahrt auf. Die verschneite Waldlandschaft fliegt förmlich an mir vorbei. Meine Nervosität weicht schnell der Freude und ich geniesse den kalten Fahrtwind im Gesicht.
Wir folgen dem bekannten Weg Richtung Wolga, doch kurz vor dem Ufer biegt Iliya auf dem Schneemobil nach links ab. «Tuyuk, lewa lewa lewa!», rufe ich meinem Leithund zu. Er versteht mich und folgt dem Schneemobil und den anderen Schlitten vor uns. Doch ich realisiere zu spät, dass wir die Kurve zu eng genommen haben und sie hart schneiden werden. Die Unebenheiten abseits der Strecke hebeln mich aus und mein Schlitten kippt nach rechts. «Jetzt bloss nicht loslassen», denke ich, bevor ich im weichen Schnee lande. «Stoi, stoi, stoi!» rufe ich meinen Hunden zu und versuche, irgendwie zu bremsen. Sie scheinen zu merken, dass etwas nicht stimmt und nachdem ich etliche Meter hinter dem Schlitten hergezogen wurde, kommen wir zum Stehen.
Ich rapple mich auf und stelle den Schlitten wieder auf die Kufen. Da taucht auch schon Sascha mit dem Schneemobil hinter mir auf. «Charascho?» fragt er mich. «Charascho! Alles in Ordnung», erwidere ich. Die weitere Fahrt verläuft problemlos. Wir gleiten mit gleichmässigem Tempo dahin.
Nach zwei wundervollen Stunden kommen wir wieder zur Farm zurück, wo wir von Svetlana erwartet werden. Meine Hunde wedeln aufgeregt mit den Schwänzen. Auch bei den anderen Teilnehmern sehe ich rundum glückliche Gesichter und fröhlich wedelnde Hunde. Das war eine gelungene Premiere. Kosta und die Mitarbeiter der Farm sind zufrieden mit uns. So dürfen wir am nächsten Tag eine Fahrt mit acht Hunden im Gespann machen.
Vertrauen gehört dazu
Nach zwei Tagen Schlittenfahren gönnen wir den Hunden einen Ruhetag. Für uns steht allerdings Arbeit auf dem Programm. Die Hundehütten müssen mit frischem Stroh ausgelegt, der Kot beseitigt und das Hundefell gekämmt werden. Svetlana betont, dass es dabei nicht allein um die Verrichtung der Arbeit geht, sondern auch um die Beziehung zwischen Hund und Musher. Die Tiere nehmen wahr, wer sie umsorgt und bauen zu diesen Personen ein Vertrauensverhältnis auf.
Apropos Vertrauensverhältnis: Svetlanas anfängliches Misstrauen und ihre Skepsis uns gegenüber sind mittlerweile verflogen. Sie ist begeistert von unserem liebevollen Umgang mit den Hunden und hat auch kein Problem, uns die Hunde für mehrere Tage anzuvertrauen. Allgemein scheinen alle auf der Farm uns gegenüber wesentlich aufgeschlossener zu sein als noch zu Beginn unserer Ausbildungszeit.
Am nächsten Tag brechen wir zu unserer zweitägigen Tour mit Übernachtung am Ufer der Wolga auf. Die Schlitten sind mit warmen Schlafsäcken und Proviant beladen. Die Schneemobile ziehen zusätzliche Schlitten mit Feuerholz, Stroh und Hundefutter. Die Strecke erweist sich als anspruchsvoller als die Routen bisher. Als guter Musher muss ich bei den Steigungen meinen Teil leisten und die Hunde unterstützen, indem ich den Schlitten mit dem Fuss anschiebe.
Erst bei Sonnenuntergang erreichen wir unser Camp. Die Aussicht auf die Wolga ist fantastisch, doch viel Zeit, um sie zu geniessen, bleibt nicht. Die Hunde wollen versorgt werden. Zuerst müssen wir ihnen einen Schlafplatz einrichten. Für jeden Schlitten heben wir im hüfthohen Schnee einen Graben aus und legen diesen mit Stroh aus. Der Graben schützt die Hunde vor Wind und das Stroh bietet Isolation vor der Kälte. Wir brauchen fast zwei Stunden, bis wir auf diese Weise allen Hunden einen Schlafplatz eingerichtet haben.
Wodka auf die Liebe
Sascha und Alena haben in der Zwischenzeit das Futter für die Hunde vorbereitet. Mit der einsetzenden Dunkelheit kommt auch die Kälte, und ich fürchte mich vor einer eisigen Nacht im Zelt. Zwei Mitarbeiter der Farm haben unser Lager errichtet und kochen am Feuer bereits das Abendessen. Es gibt ein klassisches russisches Expeditionsessen: Buchweizen mit Dosenfleisch und Erbsen. Wie aus dem Nichts zaubern die Russen eine Flasche Wodka hervor. Die darf nicht fehlen, da sind sie sich einig.
Die ersten drei Runden werden traditionsgemäss auf die Gesundheit, auf die Freundschaft und auf die Liebe getrunken. Danach erheben wir unsere Tassen auf den Winter und die Hunde. Mittlerweile ist es schon spät in der Nacht, die restlichen Teilnehmer haben sich bereits schlafen gelegt, doch ich bleibe noch etwas sitzen und geniesse den Klang der fremden Sprache und den einen oder anderen Schluck Wodka, bevor auch ich mich verabschiede. Im Zelt sorgt zu meiner Überraschung ein kleiner Holzofen für eine angenehme Wärme. Dann wird die Nacht doch nicht so kalt wie befürchtet.
Das Geheule der Hunde weckt uns alle früh am nächsten Morgen. Die Nacht war kurz und wenig erholsam, doch der eisige Wind und ein viel zu starker Kaffee wecken meine müden Lebensgeister. Mittlerweile hat es angefangen, leicht zu schneien und der Wind hat weiter aufgefrischt. Auf der Rückfahrt ziehe ich mir meine Kapuze tief ins Gesicht und meine Skibrille über die Augen.
So machen mir Wind und Schnee kaum etwas aus, und ich geniesse das meditative Dahingleiten auf dem Hundeschlitten. Am Nachmittag erreichen wir die Farm und werden dort schon sehnsüchtig erwartet. Es helfen alle mit, die Hunde zu versorgen. Heute haben sie sich eine Massage verdient. Iliya zeigt uns, wie wir die Beine der Hunde richtig kneten. Tuyuk schleckt mir zum Dank einmal quer über das Gesicht. Aber auch wir kosten diese Zeit mit den Hunden nochmals voll aus, denn unsere Heimreise steht schon bald an.
Schaschlik, ein Diplom und ein schwieriger Abschied
Für den letzten Abend ist eine grosse Abschiedsfeier mit einem Festmahl geplant. Auf Sergeijs Grill brutzeln bereits die Schaschlik-Spiesse, doch bevor es etwas zu essen gibt, überreicht Svetlana jedem von uns ein Musher-Diplom. Sie ist von unseren Fähigkeiten als Hundeschlittenführer angetan und betont nochmals, dass sie jedem von uns zu jeder Zeit ihre Hunde anvertrauen würde.
Der Duft von gegrilltem Fleisch und Gemüse dringt aus der Stube zu uns hinüber. «Es ist alles angerichtet», verkündet Sergeij. Es ist eine gebührende Abschiedsfeier für eine ereignisreiche Zeit. Ich habe das Gefühl, in das wirkliche Russland abseits der Metropole Moskau eingetaucht zu sein. Die Menschen, die ich kennengelernt habe, waren anfangs vielleicht etwas reserviert, doch im Grunde sind sie herzensgute und bodenständige Leute.
Umso schwerer fällt es mir jetzt, Abschied zu nehmen. Innige Umarmungen, viel Lachen und einige Tränen prägen unseren Abend. Doch der schwerste Abschied steht mir noch bevor. Am nächsten Morgen Tuyuk und all den anderen Huskys Lebewohl zu sagen, fällt mir nicht leicht. Ich habe jeden einzelnen in mein Herz geschlossen. Und was ich anfangs nicht für möglich gehalten habe: Ich kenne sogar jeden mit Namen.
Über den Autor
Fabian Künzel (32), ein deutscher Outdoor-Fotograf, dessen Wahlheimat Österreich war, folgte seiner Leidenschaft für Abenteuer, Natur und Tiere und hat diese Geschichte für uns aufgeschrieben und in faszinierenden Bildern eingefangen. Wenige Monate später ist er in den Bergen Tirols tödlich verunglückt. Auf Wunsch seiner Familie publizieren wir den Text posthum, weil wir wissen, dass Fabian sich darüber gefreut hätte.