The Polar Light Expedition
Thomas Oschwald braucht das Abenteuer wie andere ihren Morgenkaffee. Seine jüngste Mission führt ihn kurz vor Weihnachten nach Tromsø in Norwegen. Er will es bis ans Nordkap schaffen – alleine, im Winter und auf einem Stand-up Paddle Board. Während andere nach dem Christkind Ausschau halten, sucht er die grosse Freiheit.
Ausgabe: Onlinereportage Text & Bilder: Thomas Oschwald
Eine norwegische Redewendung besagt, dass die wirkliche Entdeckungsreise nicht nach neuem Land strebt, sondern danach, Dinge mit neuen Augen zu sehen. Mit diesen Worten im Kopf breche ich auf zu einer Reise ins Ungewisse, die mich spüren lässt, wozu ich fähig bin, wenn ich aus dem alltäglichen Rhythmus ausbreche und neue Wege gehe. Ich habe keine Lust, meinen Blick auf Pfade zu richten, von denen ich im Vorhinein weiss, dass sie problemlos zu bewältigen sind. Eine Reise soll immer die Chance bieten, etwas scheinbar Unmögliches möglich zu machen. Dieses Streben danach, neue Wege zu gehen, Horizonte zu erweitern und niemals stillzustehen, hat für mich etwas Vollkommenes.
Mit einem ersten Paddelschlag verlasse ich die schützende Bucht in Tromsø. Windböen erfassen mein Stand-up Paddle (SUP) Board und drücken es zur Seite. Die Wetterprognosen verheissen nichts Gutes. Starke Winde, Schneefall und Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt lassen mich schon nach wenigen Kilometern zweifeln. Muss ich mein Vorhaben bereits jetzt aufgeben? Ich fühle mich wie ein Stück Schwemmholz, schutzlos der stürmischen See ausgeliefert. Es liegen über 500 Kilometer vor mir. Bin ich dieser Herausforderung gewachsen? In zwei Stunden wird die Dämmerung den winterlichen Norden Norwegens erhellen und mir für ein paar Stunden Licht und Orientierung schenken, daran halte ich mich fest.
Meine erste Nacht verbringe ich 50 Kilometer südlich von Tromsø. Eigentlich sollte ich jetzt nördlich der Stadt sein, doch bereits im Landeanflug tags zuvor war mir klar, dass ich meine geplante Route in die geschützten Fjorde verlegen muss. Auch wenn ich mit einem Trockenanzug, einer Schwimmweste und einem GPS-Notfallsystem ausgerüstet bin, darf ich kein unnötiges Risiko eingehen. Jede Rettung käme zu spät, würde ich inmitten eines offenen Fjordes mein aufblasbares SUP Board durch ein Leck verlieren. Ich suche meine Grenzen nicht in waghalsigen Aktionen, sondern in mentalen und körperlichen Herausforderungen, an denen ich, ohne Kopf und Kragen zu riskieren, wachsen kann. Diese präventive Vorgehensweise erachte ich als wichtigen Aspekt meiner Abenteuer. Ob zu Hause vor der eigenen Haustüre oder auf dem Weg zum Nordkap, es ist die Auseinandersetzung mit mir selbst, welche ins Zentrum rückt, und nicht der Kick durch gefährliche Situationen. Ich paddle somit nicht nur dem Nordkap entgegen, sondern immer tiefer und tiefer in mich selbst hinein.
Am Abend koche ich mir etwas Warmes zu essen. Reis oder Pasta in Form von Trekkingnahrung werden in den kommenden zwei Wochen täglich auf meinem Speiseplan stehen. Als Frühstück gibt es meistens heissen Tee mit Knäckebrot, Käse und Trockenfleisch. Während des Paddelns gönne ich mir Energieriegel und Schokolade. Mein komplettes Equipment ist in wasserdichten Säcken auf dem Board festgezurrt. Es ist wichtig, alles möglichst trocken zu halten, da ich die Sachen ja nicht einfach zum Trocknen an die Sonne legen kann – die zeigt sich hier oben im Winter nämlich nie. Weil ich meine Route ändern musste, werde ich einige Abschnitte zu Fuss zurücklegen müssen. Ich bin froh, sind meine Ausrüstung und mein Proviant nicht zu schwer.
Der Alltag des Abenteuers
Auch in der zweiten Nacht sind die Temperaturen ins Bodenlose gefallen. Ich drehe mich ein letztes Mal in meinem Schlafsack und geniesse die wohlige Wärme. In wenigen Minuten werde ich mich in den eiskalten Trockenanzug zwängen. Wieso tue ich mir das nur an? Bei Minustemperaturen aus dem Schlafsack kriechen und danach bis zu zehn Stunden durch die Dunkelheit paddeln – klingt nicht gerade nach Spass. Wieso kann ich Norwegen nicht einfach ganz normal auf einer Hurtigruten-Kreuzfahrt entdecken? Die einlullende Wärme einer Schiffskabine spüren, das reichhaltige Frühstücksbuffet geniessen und mit dem Schiff mühelos dem sicheren Hafen entgegensteuern? Ich könnte mir all die Mühen ersparen und mich einfach nur treiben lassen. Doch genau da liegt die Faszination meiner Reise verborgen. Es sind die kleinen, unscheinbaren Dinge, welche mein Abenteuer prägen und meinen Blick für die alltäglichen Schönheiten wieder öffnen. Der Moment, in dem sich mein Körper nach den ersten Paddelschlägen langsam aufwärmt. Der einsetzende Rückenwind, der mich vorantreibt. Diese Glücksgefühle würde ich auf keinem Kreuzfahrtschiff erleben. Darum bin ich hier draussen, ich möchte wiederfinden, was ich im Alltag allzu oft übersehe oder bereits vergessen habe.
Bei meinen Abenteuern und Expeditionen braucht es jeweils seine Zeit, bis ich mich an mein neues Leben gewöhne. Paradoxerweise strebe ich nach einer Art Alltag. Einem Alltag aber, der sich wesentlich von dem zu Hause unterscheidet. Auch wenn ich eine tägliche Routine anstrebe und einer festgelegten Route folge, fühle ich mich frei und unabhängig. Ich kann alleine entscheiden, wann ich Rast mache, wo ich verweilen oder wie lange ich paddeln möchte. Diese Freiheit erlebe ich als etwas sehr Kostbares. Die täglichen Verpflichtungen fallen Paddelschlag für Paddelschlag weg, bis ich schliesslich vollkommen erlöst durch die Fjorde Norwegens gleite. Ich bin der Kapitän auf meinem eigenen Dreiquadratmeterboot.
Im Mittelpunkt meines Universums
Als ehemaliger Berufsfotograf ist es mir wichtig, meine Tour ausführlich zu dokumentieren. Da ich aber alleine unterwegs bin und als Hauptakteur trotzdem ein Teil der Bildwelt sein möchte, muss ich meine Kameras aus der Ferne steuern und auslösen können. Das stellt mich immer wieder vor zusätzliche Herausforderungen. Wie die meisten Fotografen gebe ich mich nicht mit dem erstbesten Bild zufrieden, sondern suche immer wieder nach neuen Perspektiven. Als am sechsten Tag die Winde allmählich nachlassen, kann ich zum ersten Mal meine faltbare Drohne starten und eine neue Perspektive erschliessen. Hoffen wir einmal, dass ich sie nicht im Wasser versenke und sie bei Signalverlust selber zum Ufer zurückfliegen wird. Bis jetzt sieht alles gut aus. Die Drohne folgt mir automatisch einige Meter über meinem Kopf und kreist gleichzeitig um mich herum. Für einmal fühle ich mich als Zentrum meines eigenen Universums. «Pfffsssschhhhh!» Was war das? Habe ich soeben meine Drohne versenkt? Nein, die hat inzwischen ihre orbitale Umlaufbahn verlassen und fliegt nun einem definierten Punkt entgegen. Ich sehe in der Ferne, wie sich die Rückenflosse eines Orcas aus dem Wasser erhebt. «Pfffsssschhhhh!» Ein zweiter und ein dritter gesellen sich dazu. Mir scheint, dass sie vom Geräusch der Drohne angezogen werden. Doch die fliegt brav auf ihren eingespeicherten Punkt zu. Plötzlich wird mir klar: Dieser Punkt bin ich! Während die Drohne mit den Orcas im Schlepptau geradewegs auf mich zusteuert, schiesst mit der Spruch «Fische sind Freunde, kein Futter!» aus dem Film «Findet Nemo» durch den Kopf. Das sagte der Hai zum Fisch als Zeichen, dass er ihn nicht auffressen will. Ich hoffe, die Orcas haben mir gegenüber eine ähnliche Einstellung. Doch ich beschliesse vorsichtshalber, etwas näher ans Ufer zu paddeln. Die Drohne hat jetzt ihren kritischen Batterieladestand erreicht und will bei mir notlanden. Ich bin etwas gestresst. Aber sie erreicht den rettenden Boden unbeschadet, und die Orcas ziehen vorüber.
Zum Glück werde ich morgen die Stadt Alta erreichen. Dort erwartet mich ein Hotelzimmer, das ich bereits bei der Vorbereitung zum Aufladen meiner Akkus eingeplant habe. Nach diesem Zwischenstopp in der Zivilisation geht es mit frisch geladenen Akkus und neuem Proviant weiter. Ich möchte schnellstmöglich in meinen Reisealltag zurückkehren. Dort fühle ich mich momentan wohl und aufgehoben. Das Hotel war nur Mittel zum Zweck, um meine Reise fortsetzen zu können. Bereits nach wenigen Paddelschlägen bin ich wieder in meinem Element und gleite weiter dem Nordkap entgegen. Der Wind und das schlechte Wetter sind geblieben, doch die Temperaturen sind stark angestiegen, und so fällt nun Regen anstelle von Schnee. Letzteres war mir irgendwie lieber. Frust macht sich breit, meine Motivation sinkt von Stunde zu Stunde mehr und erreicht ihren Tiefpunkt am Abend. Bei Regen ein Nachtlager aufzuschlagen, macht definitiv keinen Spass, geschweige denn, es abzubrechen.
Manchmal ergeben sich aber gerade aus den unangenehmsten Ereignissen die schönsten Erinnerungen. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich gerade heute zum ersten Mal in meinem Leben die Nordlichter sehe. Es ist, als würde der Himmel tanzen. Grüne Lichtschleier bauen sich auf, verschwinden wieder und erscheinen an einer anderen Stelle von Neuem. Ich bin einfach nur glücklich, und eine tiefe Zufriedenheit durchströmt mich. Ich betrachte den Himmel und sauge all die Herrlichkeit in mir auf, als gäbe es nur mich und das Hier und Jetzt. Leider ist das Spektakel nach einer halben Stunde wegen dicker Regenwolken nicht mehr sichtbar. Doch in mir tanzen die Nordlichter weiter, und all die Anstrengungen und der Frust des heutigen Tages sind vergessen.
Im Flow mit den Elementen
Es kann bekanntlich nicht immer regnen, und so freue ich mich über jede Regenpause und die Momente, wenn die Wolken aufreissen und mir der Mond zusätzliches Licht spendet. Am Wetter kann ich sowieso nichts ändern, doch ich kann meinen Tagesverlauf an die Gezeitenströmungen anpassen. Bei Gezeitenwechsel entstehen teilweise starke Strömungen in den Fjorden, welche ich ausnutzen kann. So breche ich heute bereits um vier Uhr morgens mein Zelt ab und lasse mich mit der Flut nach Norden, Richtung Hammerfest, treiben. Mein Plan: mich von der Ebbe und dem Rückenwind durch den Vargsundet-Fjord treiben lassen, sodass ich dann mit einsetzender Flut ab Kvalsund den Rejartfjorden hinaufgedrückt werde.
Der Plan geht auf! Heute waren die Elemente auf meiner Seite – nur der Regen hätte nicht sein müssen. An den westlich ausgerichteten Küstenabschnitten kann ich definitiv nicht weiter nach Norden paddeln. Die Wellen waren heute in den südlichen Fjorden von Hammerfest bereits sehr hoch, ich hätte keine Chancen entlang der ungeschützten Küste. Bei gleichbleibendem Wind sollte ich aber problemlos auf der anderen Seite weiter-paddeln können. Mit dem Bus erreiche ich spät am Abend den Fjord von Porsanger. Sicherlich hätte ich die 40 Kilometer auch zu Fuss zurücklegen können, doch ein nächtlicher Fussmarsch auf einer vereisten und stark befahrenen Strasse wäre vermutlich genauso gefährlich gewesen, wie wenn ich meinen Weg auf der westlichen Seite fortgesetzt hätte. Vor ein paar Jahren hätte ich mich anders entschieden, doch heute treffe ich solche Entscheidungen mit etwas mehr Verstand.
Je näher ich dem Nordkap komme, umso mehr breitet sich die Dunkelheit über das Land aus. Der Wind wird spürbar stärker und das Land rauer. Die ständig wechselnde Windrichtung macht mir zunehmend zu schaffen. Schliesslich dreht der Wind auf West. Durch den ablandigen Wind können sich zwar keine Wellen aufbauen, doch wegen der seitlich einwirkenden Windkräfte kann ich meinen Kurs nur schwer halten. Ein Blick auf die Wetterprognosen verspricht nichts Gutes. Auf die Dauer werde ich diese einseitige Belastung nicht aushalten können. Ich muss eine Lösung finden.
Die Insel Magerøya, auf der das Nordkap liegt, auf dem Wasserweg zu erreichen, stellt sich am Folgetag als unüberwindbare Mauer heraus. Manche Mauern lassen sich erklimmen, andere kann ich einreissen, doch diese muss ich umgehen. So beschliesse ich, zu Fuss weiterzugehen. Ich verabschiede mich vom Element Wasser, das mich über 450 Kilometer nach Norden getragen hat. Das Element Luft hat mir als Sturm gezeigt, wo meine Grenzen sind, doch das Element Erde wird mich Schritt für Schritt weiter nach Norden tragen und mich meinem Ziel näherbringen – während das Element Feuer in mir weiterbrennt. Infolge der starken Winde der vergangenen Tage und der hohen Temperaturen liegt kaum Schnee. Die vereinzelten Schneefelder sind gefroren, sodass sie mich tragen. Ich komme gut voran, und so beschliesse ich, nicht zum «touristischen» Nordkap zu marschieren, sondern zur Landzunge Knivskjellodden, die sogar noch 1400 Meter nördlicher liegt als das Nordkap.
Zwölf Tage und über 500 Kilometer liegen hinter mir. Ich habe es geschafft! Müde, aber glücklich sitze ich am nördlichsten Ende der Landzunge und blicke hinaus auf das offene Meer. Es ist dunkel, kalt und regnet wieder einmal. Aber ich habe meine Mousse au Chocolat dabei. Die habe ich mir wirklich hart verdient.
Über den Autor
Thomas Oschwald ist ehemaliger Berufsfotograf und arbeitet heute als Lehrer. Beruflich wie privat sucht er immer wieder nach Wegen, um die Alltagsroutine hinter sich zu lassen und neue Herausforderungen in Angriff zu nehmen. Er lebt im Glarnerland.