Von Bullenrennen bis Tigertanz

Claudio Sieber sucht den speziellen Moment, taucht dort ein, wo Menschen zusammenkommen. Er reist von Indien bis nach Südostasien und besucht traditionelle Feierlichkeiten, die Spektakel, Faszination und Spass versprechen.

Ausgabe: Onlinereportage     Text & Bilder: Claudio Sieber

 

Onam-Fest – Schlangenbootrennen
Kumarakom – Kerala – Indien | August

Ich flitze über die indische Variante der Route 66, um rechtzeitig beim Schlangenbootrennen anlässlich des Onam-Fest dabei sein zu können. Ursprünglich ein Erntedankfest, dienen die rund vierzehntägigen Festivitäten inzwischen als Grund für alle möglichen Paraden und Wettkämpfe.
Als ich in Kumarakom an den Backwaters eintreffe, kommt ein neugieriger Junge auf mich zu. Wer sich in sein Dorf verläuft, muss genauer inspiziert werden. Er nimmt mich mit zu sich nach Hause. Das Häuschen von Nithins Familie ist umgeben von Mangrovenwäldern, Kokosnusspalmen und Bananenstauden. Fünf Leute teilen sich knapp 50 Quadratmeter. Sein Vater präsentiert mir voller Stolz die Rudertrophäe vom Vorjahr.
Nithin organisiert, dass ich auch mal in einem Schlangenboot mitrudern darf. Allerdings nur zur Probe, denn am Rennen dürfen nur halbwegs professionelle Ruderer mitmachen. Je nach Länge fassen diese südindischen Boote bis zu hundert Ruderer. Wir bringen es auf zwanzig willkürlich paddelnde Trunkenbolde. Viele haben bereits einiges an Alkohol intus. Und das in einem Bundesstaat, in dem hochprozentiger Alkohol nur in staatlichen Schnapsläden erhältlich ist. Allerdings braut so mancher heimlich in den Wäldern seinen eigenen Kokosnussschnaps – ein heimtückisches Gebräu.
Zum Rennen stationieren wir uns in der Nähe der Ziellinie, wo sich viele Schaulustige eingefunden haben. Nithin erklärt, dass jedes Team im Vorfeld seine Wettkampflieder komponiert habe. Ich bin überglücklich mit unserem Platz, denn keinerlei Sonnenschirme versperren uns die Sicht, ausserdem passt der Blickwinkel, da wir von hier aus den Endspurt frontal miterleben – der Zeitpunkt, in dem die Teams zu einem übermenschlichen Ruderwerk mutieren. Ich frage mich, wie die Mannschaften in den schlanken Booten das Gleichgewicht halten können: Rasend schnell ziehen sie ihre Paddel synchron durchs Wasser. In den letzten Sekunden geht es um alles, wenige Meter Vorsprung entscheiden über Sieg oder Niederlage. Nach knapp fünf Stunden ist das Spektakel vorbei, die Trophäe überreicht und man geht zum Feiern – und damit natürlich zum Kokosnussschnaps – über.

Pa Then-Feuertanzfestival
Bac Quang District – Hanoi – Vietnam | Januar

Ich binde meine Siebensachen auf mein alte Honda und gehe nochmals die Route durch. Einige hundert Kilometer nördlich sollen die Pa Then, mit rund 6000 Menschen eine der kleinsten Minderheiten Vietnams, ein eigenartiges Fest veranstalten. Ich weiss weder den genauen Ort, noch den genauen Zeitpunkt. Doch ich bin zuversichtlich. Am vermuteten Ziel angekommen, parke ich vor einem Gebäude mit Verwaltungscharakter, wische mir den Dreck vom Gesicht und spreche die erstbeste Person an. Promt ist es der Bürgermeister. Erst bekomme ich einen warmen Händedruck, dann Tee, dann die Bambuspfeife. Und schliesslich die Gewissheit, dass die Festivitäten morgen starten. Ich kann mir einen Jauchzer nicht verkneifen.
Dem Gemeindeammann folgend gehts anderntags zum Festplatz. Es haben sich bereits viele Menschen versammelt und man begrüsst mich neugierig. Die Mutigsten unter ihnen sind die Hauptdarsteller des heutigen Tages. Zuerst stellt sich der Schamane vor. Wie alle Geisterbeschwörer umgibt ihn etwas Mystisches. Zu Ehren der Geister werden zuerst Hühner geopfert und Räucherstäbchen angezündet. Dann begibt sich die Gemeinschaft zum Dorfkern, wo schon ein Scheiterhaufen aufgebaut ist. Lässig setzt sich der Schamane auf ein Brett mit integriertem Holz-Xylophon, klimpert und singt zu Ehren der Geister. Dabei behält er das Feuer im Auge. Sobald er damit zufrieden ist, ruft er nach den Göttern. Die traditionell gekleideten Tänzer hocken sich zu ihm und fangen dann an, sich im Rhythmus des Trommelwirbels in einen Trancezustand zu schütteln, sinken wie von Dämonen befallen zu Boden, zittern, richten sich auf und springen dann in die Glut.
Dieses Ritual soll Gefahren und böse Geister mit der Kraft des Feuers vertreiben. Und es soll die Jugend ermutigen, den richtigen Pfad zu gehen, den Pfad der Mutigen. Auch ich bitte den Geisterbeschwörer um Erlaubnis, über die Kohlen tanzen zu dürfen, auch ich will meinen Mut beweisen – es ist Zeit für die Feuertaufe.

Pacu Jawi – Sumatras Cowboys
West Sumatra | Juli / August

Kuhdorf Padang Luar, Tanah Datar Distrikt, früher Morgen. Hier draussen fährt Sumatra alle Klischees auf: links der Vulkan Marapi, rechts der Sago, leuchtend grüne Reisfelder umringt von Kokospalmen. Die pittoresken Rumah-Gadang-Häuser verleihen der Szenerie den letzten Schliff. Dazu schweben Wattewölkchen über einen makelos blauen Himmel. «Es ist wie ein Zauber, niemals würde Regen den Event unterbrechen», schwärmt Organisatorin Santi und fügt an: «Die Bauern lassen dies nicht zu.» Die Bauern feiern das Ende der Reisernte.
Die Rennstrecke für das Pacu Jawi (Pacu = Rennen, Jawi = Bulle) ist ein frisch gepflügtes und überschwemmtes Reisfeld, was Action mit Matsch und dramatischen Szenen verspricht. Die Jockeys treiben lässig ihre Jawis zum Treffpunkt. Prächtige Mannsbilder mit sehnig-muskulösen Körpern und heroischen Blicken, alles emsige Landwirte der Region. Ich gehe zum Lager der «Cowboys» und habe Glück, auf Hamid zu treffen. Nach etwas Tratsch stellt er sich als Gewinner des letzten Jahres vor. Wie er denn seine Konkurrenten besiegte, frage ich neugierig. Hamid verrät mir zumindest eines: Die Nahrung für den Bullen macht es aus. Unter das frische Gras mischt er proteinfeiste Enteneier und etwas Honig fürs Durchhaltevermögen. Ich gebe Hamid einen High-five und wünsche «Hati hati di jalan» (Vorsicht auf der Strasse, gute Reise).
Die Jockesy treten nacheinander an. Dabei hat das Organisationskomitee seine liebe Mühe, ohne Messpistolen oder gar einer ausgefeilten Bewertungsgrundlage einen Sieger zu küren. Aber Preisgeld gibt es sowieso keines, dem Sieger gebührt lediglich die Ehre des Dorfes.
Mit den ersten Rennen legen auch die festlich gekleideten Musikanten los. Sie klimpern mit Schellenhanschuhen auf einem Set Porzellanteller, dazu begleitet ein Xylophonist. Wer will da nicht losrennen? Der erste von knapp 50 Jockeys betritt den Matsch, stellt sich auf zwei lose Holzlatten, schnappt nach den beiden Stierschwänzen und skatet mit seinem Gespann bravourös bis zum Ende der 100 Meter langen Strecke. Hin und wieder beisst einer in den Schwaz seines Tieres, um den Turbo einzuschalten. Mancher kann in letzter Sekunde einen Spagat abwenden, wenn das Bullenduo droht, in zwei verschiedene Richtungen davonzustürmen. Alle freaken aus. Es ist ein Fest für die einfachen Leute, ein Fest, das ihren Alltag unterbricht und vielleicht gerade deshalb unvergleichlich cool ist. Und dann wird das Vieh auch schon wieder auf die Laster verladen, man zieht sich zurück, bis zum nächsten Rinderwahn.

Pulikkali – Tigertanz
Thrissur – Kerala – Indien | September

Im südindischen Cochin miete ich eine Royal Enfield – die Harley Davidson Indiens – und mache mich auf nach Thrissur, wo das Pulikkali stattfindet. Ich habe wieder einmal unverschämtes Glück, denn bevor die Parade unter dem Jubel zehntausender Schaulustiger beginnt, führt mich der Patron meiner Unterkunft zu dem Ort, wo sich die Männer auf das Fest vorbereiten und sich in Raubkatzen verwandeln. Mit viel Ausdauer werden Glieder und vor allem Bäuche bepinselt. Minimal hundert Kilo und ein männlicher Busen scheinen Pflicht für die Akteure zu sein, denn auf einem durchtrainierten Adonis wirkt kein Raubtiergesicht.
Fertig getrocknet, werden die manifestierten Leoparden, Tiger, Löwen und Panther auf die Strasse gescheucht, um zu schwabbeln, zu fauchen und in Begleitung wilder Trommelmusik bis in die späte Nacht zu tänzeln. Die Parade besteht aus rund zehn Rudel mit 40 bis 50 «Raubkatzen». Daneben führen gestylte Keralesen auf Festwagen Episoden aus der Sagenwelt des Onam-Festes vor. Das Pulikkali selber wiederum hat seinen Ursprung vor über 200 Jahren, als der damalige Maharaja von Cochin «Rama Varma Sakthan Thampuran» sein Volk anwies, das traditionelle Erntedankfest Onam in einem wilden und macho-artigen Stil zu feiern.

Sak Yant Wai Khru Festival
Nakhon Chai Si – Thailand | März

Nakhon Chaisi Distrikt, Wat Bang Phra: Es ist exakt 9.39 Uhr im buddhistischen Jahr 2561, der offizielle Start zu diesem spektakulären buddhistischen Event. Sekunden nach dem Auftakt rennt eine Meute Thais, wie besessen von ihren magischen Sak-Yant-Tätowierungen, in Richtung heiliger Schrein des Tempels. Ein menschlicher Schild, bestehend aus zwei Dutzend Sanitätern, fängt sie gerade noch rechtzeitig ab. So will es das Ritual. Am Sak Yant Wai Khru Festival versammeln sich jährlich über 10’000 Buddhisten, um die Wirkung ihrer magischen Tattoos (Sak Yant) zu erneuern.
Keiner weiss, wann genau die Tradition ihren Ursprung fand. Viele sind überzeugt, dass sie schon vor 2’000 Jahren existierte. Die grosse Mehrheit der Tattoosymbole sollen vor Unheil bewahren, Glückseligkeit bescheren und zu bestimmten Talenten befähigen. Bereits von mittelalterlichen Schlachtfeldern berichteten Gläubige über deren starken Schutz. «Es wird dich jedoch nicht von Frauen beschützen», witzelt ein Künstler, als er mir von den Mythen erzählt.
Jeder, der eine Tätowierung von einem gelehrten Mönch erhalten will, muss Blumen oder eine Packung Zigaretten von einem der Tempelläden als Opfergabe kaufen. Auch eine Geldspende ist angemessen. Diese Einnahmen dienen dazu, den Tempel finanziell zu unterstützen. Manche Mönche praktizieren die Tätowierkunst seit Dekaden. Natürlich gibt es auch die ominösen Tätowierläden in Bangkoks dunklen Gässchen, doch nur die wahren Sak-Yant-Meister praktizieren über Jahrzehnte die Meditation und lernen diese Kunst mit Sorgfalt. «Erfahrung und Wissen machen den Unterschied.»
Selbst die Meister, die ihre Mönchsrobe abgelegt haben, kommen zu dieser jährlichen Zusammenkunft, um ihre Kundschaft mit einem neuen Tattoo zu versorgen. Die Gläubigen erhalten das Tattoo entsprechend ihrem Beruf oder sozialem Status. Das gilt zumindest für die Thais. Sie lassen sich von ihrem Meister beraten, was genau für ihre derzeitige Lebenssituation geeignet ist. Der Künstler macht dann einen Vorschlag.
Beim Tätowiervorgang ist Teamarbeit gefragt. Während der Mönch die Spitze der armlangen Metallnadel in die Haut sticht, halten drei bis vier Freiwillige den «Patienten» fest. Sobald es fertig ist, segnet der Mönch das Werk mit einem heiligen Ghata (Zauberspruch). Nur wenn er dies macht, ist das Tattoo mit Superpower aufgeladen. Und nur wenn der Gläubige wahrhaft an die Regeln des Buddhismus glaubt und diese praktiziert, wird das Sak Yant seine sakrale Magie auch entfalten.

Über den Autor

Claudio Sieber ist Weltenbummler und Freelance-Fotograf. Seit über vier Jahren ist der Ostschweizer unterwegs, um die Schönheit und Kuriositäten dieser Welt zu entdecken. Auf www.claudiosieberphotography.com und www.travelbuddy.ch und teilt er seine Erlebnisse in Bild und Schrift.

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