Herausforderungen auf offener See

Drei Freunde, ein Boot und das Meer. Leonie, Jonas und Thilo machen ihren Traum wahr. Sie kaufen ein Segelboot, machen es hochseetauglich und absolvieren einen Crashkurs im Segeln. Abenteuerlustig segeln sie los und erleben dabei ihr blaues Wunder.

Text & Bilder: Leonie Massmann

Bis auf die letzte Schicht durchnässt und mit zitternden Fingern stehe ich in der Dunkelheit. Kaltes Salzwasser spritzt mir ins Gesicht und brennt in meinen Augen. Mir schiesst durch den Kopf, was mir meine Freunde Thilo und Jonas eingebläut haben: «Halte dich immer gut fest! Wenn du ins Meer fällst, können wir dich im Dunkeln nicht finden!» Heisse Tränen laufen mir über die Wangen und während mir die Gedanken durch den Kopf rasen, wage ich es nicht, meinen Blick von dem kleinen grünen Licht abzuwenden, das vor mir hin- und herschaukelt. Es verschwimmt vor meinen Augen und ich kann nicht mehr einschätzen, wie weit entfernt es noch ist. Doch ich weiss, sobald wir es erreicht haben, sind wir im sicheren Hafen von Ijmuiden angekommen.

Die Barfussroute

Drei Wochen zuvor. Während ich meine Schwester zum Abschied im Arm halte, rasen mir Gedanken durch den Kopf. Aussagen, die ich mir während unserer Vorbereitungszeit angehört habe: «Ihr seid völlig verrückt, ohne Erfahrung loszufahren!», oder: «Ihr müsst es durchziehen, ich habe immer davon geträumt und jetzt bin ich zu alt für so ein Abenteuer.» Was soll ich glauben? Ist das alles richtig, was wir hier tun oder sind wir lebensmüde? Aber ich vertraue meinen Freunden Jonas und Thilo. Ihr Glaube und ihr Wille sind unerschütterlich. Jedoch weiss ich auch, dass auch meine beiden Reisegefährten nicht genau wissen können, wovon sie sprechen. Denn auch sie haben keinerlei Erfahrung wie es ist, grosse Distanzen in einem Segelboot auf offenem Meer zu überwinden. Zielstrebig jagten wir die letzten Monate einer spontanen Idee hinterher, kauften von all unserm Ersparten ein altes Boot, reparierten es, machten einen Segel-Crashkurs und wissen dennoch nicht, ob es reichen wird, um unsere Idee in die Tat umzusetzen. Doch unser Entschluss steht fest: Wir wollen es versuchen. Wir wollen uns drei Jahre Zeit nehmen und die Erde auf der sogenannten Barfussroute einmal am Äquator entlang umrunden.

Nordsee-Start

Früh am Morgen ziehe ich mein dickes Ölzeug an. Mit gemischten Gefühlen starte ich in den Tag. Ich freue mich, endlich meine erste richtige Segelerfahrung zu machen. Ein grosser Anteil Respekt schwingt aber mit. Das Schleusentor öffnet sich, wir steuern unser 12 Meter langes Segelboot das erste Mal aufs offene Meer hinaus.

Die Nordsee ist kein Anfängerrevier. Aber wir müssen hier durch, zügig, damit wir die Biskaya noch vor Herbst durchqueren können. Die Bucht von Biskaya, die die französische und die spanische Küste miteinander verbindet, sollte nur von Mai bis September durchquert werden. Sobald der Herbst beginnt, treffen in der riesigen Bucht sämtliche Stürme vom offenen Atlantik her ein. Der Sommer neigt sich langsam dem Ende zu, wir haben Anfang August und nur einen Monat Zeit, um die Biskaya zu erreichen und noch rechtzeitig zu überqueren. Wir werden die kommenden Wochen keine Zeit haben, all die neuen Erlebnisse, die wir auf der Nordsee sammeln, zu verarbeiten oder uns ausgiebig auszuruhen.

Nach Gefühl und gesundem Menschenverstand hissen wir die alten, geflickten Segel und bewegen uns in einem zufriedenstellenden Tempo fort. Unser Tagesziel ist Ijmuiden, eine rund 70 Kilometer entfernte Hafenstadt in den Niederlanden. Wir hoffen, am Nachmittag dort einlaufen zu können. Nach anfänglicher Euphorie merke ich, dass sich das Meer weiter draussen verändert. Die Wellen werden höher, der Wind kommt direkt von vorne. So können wir den Kurs nicht halten und müssen uns in Zickzacklinie fortbewegen. Nach kurzer Zeit bekomme ich ein flaues Gefühl im Magen. Ich bin überrascht, wie stark das Boot schaukelt und wie viel Meerwasser aufs Deck schwappt. Wir stellen rasch fest, dass wir uns in der Zeit, die wir für die Distanz brauchen, verschätzt haben.

Blinkende Dunkelheit

Ohne Autopilot muss, egal was passiert und egal wie stark der Seegang ist, jemand am Steuer stehen und den Kurs halten. Schon von weitem sehen wir den Hafen von Ijmuiden, noch ist aber Durchhaltevermögen gefragt. Ich sehe das grüne Licht des Hafens vor mir. Das Schiff schaukelt, und ich wende alle Kraft auf, um den Kurs zu halten. Völlig erschöpft, mit leeren Mägen und mit Vorfreude, wieder auf festem Boden zu stehen, erreichen wir im Dunkeln den Hafen. Unser erster Segeltag war unerwartet anstrengend.

Auch in den folgenden Tagen haben wir mit Wind und Wellen zu kämpfen, die uns den Anfang schwer machen. Auch mit Motor kommen wir kaum gegen die Gezeiten an. Stück für Stück arbeiten wir uns voran, reden uns gut zu.

Nach jedem Tag fallen wir erschöpft in unsere Betten. Doch bald sind wir ein eingespieltes Segelteam. Wir haben uns an den starken Seegang gewöhnt und lassen uns davon nicht mehr aus der Bahn werfen. Aber vor allem erfahren wir, wie es ist, immer unterwegs zu sein, sich nur langsam fortzubewegen und jeden Morgen an einem neuen Ort aufzuwachen. Das Meer wird von Tag zu Tag ruhiger, und nach den anstrengenden Segeltagen dürfen wir etwas aufatmen. Wir erleben immer mehr Momente, die uns zeigen, wieso sich der Aufwand lohnt. Wenn die Sonne scheint, kann ich meine Augen nicht von der Weite des Meeres abwenden. Das Meer, das so friedlich, aber auch so beängstigend sein kann. «Wenn ihr die Nordsee geschafft habt, dann könnt ihr überall hinsegeln», haben uns erfahrene Segler gesagt.

Mit Delfinen durch die Nacht

Dann stehen wir kurz vor der Biskaya-Durchquerung. Bevor wir es wagen, wollen wir eine Nachtfahrt üben, um nicht völlig unvorbereitet zu sein. Wir planen deshalb einen längeren Trip von Cherbourg bis nach Camaret-sur-Mer. Weil immer jemand am Steuer stehen muss, teilen wir uns in Schichten ein. Ich bin aufgeregt.

Wir starten mit gedrückter Stimmung. Der vergangene Tag war anstrengend. Alle tragen für drei Stunden die alleinige Verantwortung: Ausschau nach Booten halten, auf Kurs bleiben, die Segel richtigstellen. Die erste Schicht von 11 bis 2 Uhr nachts werde ich übernehmen.

Ein wunderschöner Sonnenuntergang hellt unsere Stimmung für kurze Zeit auf. In der Dämmerung leuchtet der Himmel rosa, und das Meer ist orange gefärbt. Plötzlich höre ich neben mir ein Plätschern. Anders als die Wellen, die gegen den Rumpf schlagen. Erst kann ich nichts sehen, doch plötzlich sehe ich eine Flosse. Ich wusste, dass das noch auf uns zukommt, aber trotzdem kann ich das Glück nicht fassen. Delfine schwimmen neben unserem Boot. Ich kann gar nicht zählen, wie viele es sind, aber das Gefühl, das erste Mal Delfine auf offenem Meer zu sehen, ist unbeschreiblich. Mein Bauch kribbelt vor Freude und auch Jonas und Thilos Augen leuchten wie noch nie zuvor auf der Reise. Alle Zweifel sind auf einmal verschwunden, wir fühlen uns hier gut aufgehoben. Glücklich schauen wir den Delfinen zu, wie sie uns begleiten.

In der Nacht bin ich alleine an Deck. Die Wolken verdecken das Mondlicht. Ich werde von Minute zu Minute müder. Wieso verstreicht die Zeit plötzlich so langsam? Fröstelnd stehe ich am Steuerrad und versuche, die Augen offen zu halten. Meine Beine knicken immer wieder ein, doch ich weiss, wenn ich mich am Steuer hinsetze, werde ich einschlafen. Im Dunkeln höre ich noch immer die Delfine neben dem Boot. Sie stecken mich an mit ihrer Unbeschwertheit. Ich reisse mich zusammen und um 2 Uhr übergebe ich Jonas das Steuer. Als im Morgengrauen Camaret-sur-Mer vor uns liegt, blicken wir uns mit müden Augen an und wissen, die vier Tage auf der Biskaya werden anstrengend, aber machbar sein.

4000 Meter bis zum Grund

Noch während wir in den Hafen segeln, checken wir das Wetter für die nächsten Tage. Und stellen fest: Wenn wir hier nicht zwei Wochen festsitzen wollen, müssen wir noch heute wieder los. Also legen wir nur kurz an, um einzukaufen, vollzutanken und Wasser aufzufüllen. Dann stechen wir wieder in See. Ich brauche etwas Zeit, um mich darauf einzustellen. Ich hätte mich gerne ausgeruht.

Drei Nächte und vier Tage auf offenem Meer liegen vor uns, ich werde 96 Stunden vor dem Steuerrad stehen.

Meile um Meile lassen wir hinter uns, während sich die Umgebung kaum verändert. Nur die Temperatur steigt, es geht gegen Süden. Die letzte Nacht kommt schneller als gedacht. Ich stehe schon seit drei Stunden am Steuer. Über mir bietet sich ein Anblick, der Freudentränen aufkommen lässt. Ich habe nie zuvor einen solchen Sternenhimmel gesehen. Das Meer ist so hell erleuchtet, dass es kaum bedrohlich wirkt. Ein guter Abschluss für diese Durchquerung, denke ich noch, bevor ich später in der Kajüte in den Schlaf gleite.

Orcas kreuzen den Weg

Es weht kein Lüftchen und für die letzten Seemeilen bis LaCoruña läuft der Motor. Das Meer ist glatt, ich bin innerlich ruhig. In weiter Entfernung betrachte ich die lang ersehnte Küste Spaniens. Jonas und Thilo haben sich noch einmal hingelegt und so schaue ich einfach nur in die Ferne und gehe meinen Gedanken nach.

Dann entdecke ich in der Ferne etwas im Wasser. Ich freue mich schon, dass wir am frühen Morgen von Delfinen begrüsst werden, doch rasch erkenne ich, dass die Finne grösser und pechschwarz ist. Ich traue meinen Augen kaum, denn dort, wo ich gerade noch die Finne gesehen habe, springt jetzt ein riesiger Orca aus dem Wasser. Ich sehe seinen wuchtigen Körper. An der Anzahl Finnen im Wasser, müssen es noch mehr sein. Ich wecke sofort Jonas und Thilo. Alle drei stehen wir an der Reling und sind überwältigt. Die Orcas kommen immer näher und verschwinden dann. Plötzlich beginnt das Steuerrad in meinen Händen wie von Geisterhand zu drehen: schnell nach rechts und wieder in die andere Richtung. Wir verlieren die Kontrolle über das Boot.

Dann tauchen die Orcas auf beiden Seiten des Boots auf. Sie schwimmen gegen den Stahlrumpf, speziell gegen das Ruder. Das Boot dreht sich mehrmals um seine eigene Achse. Wir können nicht fassen, was hier gerade passiert und sind viel zu aufgewühlt, um klar zu denken, was nun zu tun ist. Die Tiere sind so nahe, dass wir sie anfassen könnten, wenn wir uns aus dem Boot lehnen würden. Das traut sich aber niemand von uns. Nie hatte ich je davon gehört, das Orcas Boote angreifen. Ich finde es verrückt, dass wir vor vielen Szenarien gewarnt wurden, ausser davor.

Nach einer Viertelstunde ziehen sich die Orcas zurück. Wir können unseren Kurs wieder aufnehmen für die letzten Seemeilen zum Hafen. Mit wackligen Knien betreten wir den Steg und fallen uns in die Arme. Wir haben es geschafft, ein erster Meilenstein unserer Reise liegt hinter uns. Jetzt wollen wir erstmal nur duschen und schlafen.

Erst hier in La Coruña hören wir davon, dass Boote von Orcas angegriffen wurden. Einige weniger stabile Boote mussten wegen zerstörter Ruder die Seenotrettung alarmieren. Warum sich die sonst Menschen gegenüber friedlichen Tiere so verhalten, weiss niemand. Doch egal wieso, uns wird bewusst, dass wir uns öfter in Erinnerung rufen sollten, dass wir auf dem Meer nur zu Gast sind.

Über die Autorin

Leonie Massmann (23) studierte Sonderpädagogik in Köln und wohnt seit zwei Jahren auf ihrem Segelboot an den verschiedensten Orten der Welt. Fasziniert von der Natur, neuen Orten und Kulturen reist sie gemeinsam mit ihren Freunden und teilt die Eindrücke ihrer Abenteuer in Form von Filmen, Fotos und Texten.

www.bluehorizonsailing.de

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