Zwischen Kühen, Klippen und Klöstern

Auf einer sechstägigen Wanderung durch das armenische Dilidschan-Gebirge nehmen Lena Gossens und ihre Gruppe ein zugelaufenes Wandermitglied auf, entdecken eine bislang unbekannte Route durch die Berge und freuen sich über die seltenen klaren Ausblicke.

Ausgabe: Online-Reportage Text: Lena Gossens Bilder: Andreas Lienert 

Schreiend stürmt er aus seinem mit Karton, Plastikplanen und Metall zusammengezimmerten Haus. Die Hunde bellen und fletschen die Zähne. Der Mann fuchtelt mit den Armen. Unser Guide ruft ihm etwas zu. Dem Klang nach zu urteilen: nichts Freundliches. Vor meinem inneren Auge sehe ich bereits, wie uns der Bauer mit einer Mistgabel von seinem Grundstück jagt. Und seine Hunde auf uns hetzt. Er brüllt ein paar Worte zurück, die ebenso wenig freundlich klingen und zeigt dabei auf die gesamte Gruppe. Au weia!

Nasser Start

Bei unserer Ankunft in Jerewan, der Hauptstadt Armeniens, strahlt die Sonne und es ist sommerliche 30 Grad warm. Mit unserer kleinen Reisegruppe wollen wir sechs Tage durch die armenischen Berge wandern und einer bislang unbekannten Route folgen. Dabei tragen wir der im Hochland zu erwartenden Wasserknappheit Rechnung und planen grosszügige Wasservorräte ein.

Als es losgeht, trage ich mit meinen 50 Kilo Körpergewicht einen Rucksack, der 21,5 Kilo wiegt. Vier Kilo davon sind Wasser. Bei unserer Ankunft am Startpunkt stellt sich das mitgeschleppte Wasser jedoch als überflüssig heraus.

Hier gibt es Wasser, soweit das Auge reicht. Ich sehe einen Bach und kleine Tümpel. Doch die Sicht ist nicht sonderlich weit. Von dichtem Nebel umgeben, starten wir unsere Reise ins Ungewisse. Der erste Tag führt uns durch regenwaldähnliche Landschaften, vorbei an Pflanzen, die mich mit meinen mickrigen 1,61 Metern Körpergrösse fast überragen.

Die Tagesetappe endet in einem verlassenen Bergdorf. Vor einem zerfallenen, schiefen Holzgebäude halten wir an, um unser Lager einzurichten. Stroh fällt büschelweise aus den vier Wänden und verwaschene, bunte Malereien an den vermoderten Holzbrettern deuten darauf hin, dass das hier mal ein Kindergarten gewesen sein muss. Kein geeigneter Ort, um die Nacht zu verbringen.

Kurzerhand schlagen wir unser Lager dann in der Kirche auf, um uns vor der Witterung zu schützen. Ich bin keine Kirchengängerin und der Gedanke, in einer zu übernachten, widerstrebt mir. Die Fledermäuse, die wir mit unserem Besuch im alten Gemäuer aufscheuchen, scheinen das genauso zu sehen.

In der Nacht tue ich kein Auge zu. Das hat allerdings weder mit den Fledermäusen noch mit dem gleichmässigen Tropfen von der Decke auf mein Zelt zu tun. Auch nicht mit dem Porträt der Heiligen Maria, das verstaubt auf dem Altar steht. Im Zelt neben mir liegt eine Kettensäge. Es klingt zumindest so.

Am nächsten Tag gibt es keinerlei Hoffnung auf Wetterbesserung. Im Nebel machen wir uns auf den Weg, im Nebel kommen wir an. Zwischendurch reissen die Nebelwände auf und für wenige Minuten erhaschen wir einen Blick auf weite, rollende Hügel und steile Felsklippen. Die Aussicht ist aber dann auch genauso schnell wieder weg, wie sie gekommen ist. Als wir beschliessen, nach der nächsten Steigung Rast zu machen, taucht mit jedem Schritt ein weiteres Gebäude aus dem Nebel auf. Bellende Hunde kündigen unser Erscheinen an. Beim nächsten Haus stürzt ein Bauer zur Tür heraus, ruft und fuchtelt mit den Armen.

Schnaps oder Tee

Unser armenischer Guide Artyom und der Bauer diskutieren lautstark. In meinen Ohren klingt es nicht sehr freundlich. Umso überraschter bin ich, als sich Artyom plötzlich grinsend umdreht: «Wollt ihr Tee? Er lädt uns in sein Haus ein.»

Als wir näherkommen, begrüsst uns die Mutter des Bauers. Die Hunde beäugen uns weiterhin misstrauisch. Gemeinsam leben die beiden mit ihren drei Hütehunden, ein paar Ziegen, Schweinen und Hühnern hier oben und versorgen sich fast vollständig selbst. Die Kühe, die auf den umliegenden Berghängen grasen, gehören ebenfalls dazu. Wir legen unsere Rucksäcke ab und treten ein.

Völlig aufgeregt richtet die Mutter den Tisch her, der den Mittelpunkt der improvisierten Hütte bildet. Sie besteht aus einem kleinen Raum mit einem Holzofen, zwei Betten und dem Tisch, an dem wir uns niederlassen. Bevor ich mich setzen kann, klemmt sie mir freundlich lächelnd und energisch ihr Kopfkissen unter den Hintern.

Die Mutter deckt den Tisch mit altem Porzellan und erklärt uns, dass sie das Brot, den Käse und den Schmand hier oben selbst herstellten. Sie stellt die Köstlichkeiten auf den Tisch und bedeutet uns, zuzugreifen. Das muss sie uns nicht zweimal sagen. Mit einem breiten Grinsen zaubert der Bauer dann eine Plastikflasche hervor, lässt ein paar Gläser auf den Tisch purzeln und schenkt ein.

Ich halte meine Nase über das Glas. In meinem Körper zieht sich alles zusammen. Ein Blick in die Runde offenbart schnell: Den anderen geht es nicht anders. Der selbstgebrannte Schnaps riecht genauso wie das Desinfektionsmittel meines Zahnarztes, aber unser Gastgeber hält sein randvolles Gläschen in die Höhe und sieht uns freudig an. Ich tausche vielsagende Blicke mit meinem Gegenüber und runter geht das Teufelszeug.

Als wir später aufbrechen, lassen sich die Hunde zum Abschied mit Streicheleinheiten verwöhnen. Zwei der Schweine begleiten uns ein Stück. Einige Minuten später klart der Nebel auf und wir blicken auf die kleine Hütte zurück.

Der Weg führt uns zunächst über sanfte Hügel, bevor es stark bergauf geht. Ein Einheimischer und sein Hund, die wir unterwegs getroffen haben, begleiten uns. Er ist mit der Landschaft vertraut und wir sind dankbar für seine Kenntnisse. Es ist immer noch so neblig, dass wir nicht sehen können, wohin der Weg führt. Vermutlich besser so, denn dadurch haben wir auch keinen blassen Schimmer, wie tief die Klippe neben uns abfällt. So konzentrieren wir uns auf den nächsten Schritt und lassen uns von den bunten Wildblumen, die wie Farbspritzer aus dem Nebel ragen, begeistern.

Je höher wir kommen, desto farbenfroher werden die Blumenwiesen und so schlagen wir am Ende des Tages unsere Zelte inmitten des Blumenmeers auf und machen uns bereit für die Nacht. Ich habe aus meinen Fehlern der vorherigen Nacht gelernt und mir Ohrstöpsel organisiert. So schlafe ich wie auf Wolken, und beginne den nächsten Tag ausgeruht und gut gelaunt.

Vierbeiniger Abenteuerfreund

Das Wetter hingegen begrüsst uns mit einem kalten Wind, der Nebelschwaden durch unser Camp treibt. Der Hund des Einheimischen vom Vortag liegt neben unseren Zelten und streckt sich genüsslich, während wir uns parat machen. Unwissend, dass der Hund unser Begleiter für die nächsten Tage werden soll, versuchen wir ein paar Mal, ihn nach Hause zu schicken. Als wir dann losgehen, folgt er uns freudig und trottet mal vor und mal neben uns her.

Uns steht ein anstrengender Tag bevor, mit vielen Kilometern bergauf und einer uns unbekannten Route über die Klippen. Wir überqueren das Plateau, auf dem wir übernachtet haben. Plötzlich hören wir donnernden Lärm direkt auf uns zukommen. Doch der Nebel versperrt uns jegliche Sicht. Wir bleiben stehen, und keine Minute später sind wir von einer Herde wilder Pferde umzingelt. Sie beäugen uns skeptisch. Die eine oder andere Stute wagt sich näher an uns heran. Als wir weitergehen, folgen sie uns und begleiten uns bis über den nächsten Kamm. Dann sind wir wieder allein.

Gegen Mittag erreichen wir den höchsten Gipfel der Gebirgskette, und der Himmel klart auf. Als wir im strahlenden Sonnenschein das Gipfelkreuz erreichen, jubeln wir, bevor wir die Rucksäcke ablegen und Mittag machen. Sofort inspizieren riesige Heuschrecken unsere Rucksäcke, unser Essen und uns. Als ich mich für ein Nickerchen hinlege, hoffe ich inständig, keins dieser fleischigen Viecher zu verschlucken. Ich döse weg. Als wir eine Stunde später aufbrechen, ist der Nebel wieder da. Wir alle haben uns trotz Sonnencreme verbrannt.

Kurz bevor wir unser Nachtlager erreichen, ist der Nebel wieder so dicht, dass wir nur wenige Zentimeter voneinander entfernt gehen und uns trotzdem kaum noch sehen können. Obwohl die Feuchtigkeit in Tropfen von unseren Gesichtern läuft, sind wir uns einig: Ohne den Nebel wäre diese Expedition aufgrund der Hitze fast unmöglich.

Nahe einer Klippe schlagen wir unser Lager für die nächsten zwei Nächte auf. Der Abend ist windig und kalt. Nach einem raschen Abendessen verkriechen wir uns in unseren warmen Schlafsäcken. Doch bevor ich den Zelteingang schliesse, treibt der Wind eine Lücke in die Wolken und ich kann die mächtigen Felsenklippen vor unserem Lager sehen. Wie schön es hier ist!

Der zur Erholung gedachte Tagesausflug am nächsten Morgen führt uns entlang der Klippen ins Tal. Nach einer Weile erreichen wir einen Wasserfall, den wir kurzerhand zum Duschen nutzen. Das Wasser fällt hart und kalt auf meine Schultern, ich konzentriere mich auf meine Atmung und versuche, diese einmalige Erfahrung zu geniessen. Lachend sehen wir uns gegenseitig dabei zu, wie das Wasser auf uns niederprasselt und als wir uns später wieder anziehen, haben alle ein Grinsen im Gesicht.

Am Horizont ziehen dunkle Wolken auf und wir machen uns zügig auf den Rückweg. Im Lager angekommen, ist das Gewitter vorbeigezogen und das Wetter bessert sich. Wir entfachen ein Feuer und kochen unser Abendessen. Einer aus unserer Gruppe hat Musiktexte dabei und so lernen wir am Lagerfeuer kichernd «I bin en Italiano». Als die letzte Strophe erklingt und wir siegessicher «O mia bella cara Margherita» trällern, nimmt die in der Nähe grasende Pferdeherde Reissaus und stürmt mit donnernden Hufen davon.

Stattdessen trauen sich nun Kühe in die Nähe unseres Lagers. Sie kommen für unseren Geschmack ein wenig zu nah an unsere Zelte. Doch bevor wir sie verscheuchen können, springt unser vierbeiniger Begleiter auf. Bellend vertreibt er die Kühe, bevor sie über unsere Zelte stolpern können, und holt sich danach stolz sein Lob ab. Nachts legt er sich unter unser Tarp und schläft dort, bis wir morgens aus den Zelten kriechen, um unser Abenteuer fortzusetzen.

Der perfekte Abenteuerhund: Er läuft brav mit, zwischendurch verschwindet er im Dickicht, bevor er Minuten später wieder auftaucht. Unaufdringlich begleitet er uns, ohne zu betteln, einfach nur froh darüber, dabei sein zu dürfen. Der dünne Beagle hat sich in unsere Herzen geschlichen und wird von uns Drug genannt. Das ist Russisch für Freund.

Unser armenischer Guide Artyom nennt sich selbst den Superguide und tauft uns die Great Nine. Mit einem Blick auf Drug nimmt er das aber dann lachend zurück und korrigiert sich: Great Ten. Drug gehört natürlich auch zum Expeditionsteam.

Ein wilder letzter Tag

Am nächsten Morgen erwartet uns endlich Sonnenschein. Die Strahlen beleuchten die Klippen und zum ersten Mal ist es so klar, dass wir das ganze Tal und die umliegenden Berge sehen können. Auch der Ararat, der höchste Berg der Türkei, der in Armenien als Nationalsymbol gefeiert wird, ist in der Ferne sichtbar.

Unsere Tagesroute führt uns für einige Kilometer den Klippen entlang. Wir überqueren Kuhweiden mit Wildblumen. Am Mittag schlagen wir unser Lager auf einer Wiese auf, bevor wir unsere leichten Tagesrucksäcke schultern und uns auf den Weg zu einem nahegelegenen Kloster machen.

Zurück im Lager machen wir Abendessen und trinken Tee aus wildem Thymian. Wir verbringen unseren letzten Abend gemeinsam, spielen Black Stories und machen es uns, als abends erneut Regen einsetzt, unterm Tarp gemütlich. Drug vertreibt die Kühe von unseren Zelten und gesellt sich dann zu uns, um seinen Schlafplatz im Trockenen einzunehmen. Als der Regen aufhört, wärmen wir uns erneut am Feuer, lassen die Highlights unserer Tour Revue passieren und kriechen in unsere Schlafsäcke.

Als der letzte Tag anbricht, wecke ich Drug und gönne mir einen Kaffee. Als der Rest unserer Truppe müde aus den Zelten kriecht, ist das Frühstück bereits fertig. Durch die Übung der letzten Tage ist das Lager schnell abgebaut und die letzte Tagesetappe beginnt. Sie führt uns durch das Tal und über einen Pass.

Der lange Abstieg erfordert ein paar Flussüberquerungen. Der Weg ist gesäumt von Wildblumen. Wir kommen an einer Kuhweide vorbei, die von rieseigen Hütehunden bewacht wird. Zügig verlassen wir die Gefahrenzone, aber Drug ist plötzlich spurlos verschwunden.

Besorgt halten wir an und ruhen uns aus. Wie immer schiesst Drug einige Minuten später neben uns aus dem Gestrüpp und wird überschwänglich begrüsst. Er scheint heute einen wilden Tag zu haben, denn als wir weitergehen, springt er wie verrückt durch die Blumenwiesen um uns herum und rennt mit einem Affenzahn die Berge hoch und runter. Wir folgen ihm gemütlich und geniessen die letzten Stunden unserer Weitwanderung.

Gegen 15 Uhr erreichen wir die Bauernsiedlung, bei der wir abgeholt werden. Wir gratulieren uns gegenseitig zur erfolgreichen Wanderung. Wir konnten eine bisher unbekannte Route durch das Dilijan-Gebirge beschreiten und Wege, Wasserstellen und Campspots markieren.

Wir stellen die GPS-Daten unserer Expedition der lokalen Berg-Community zur Verfügung. Sie können dabei helfen, die Klippen und die abgelegene Landschaft zugänglicher und sicherer zu machen. Wir machen den Besitzer von Drug ausfindig und sagen unserem vierbeinigen Wanderfreund Lebewohl. Er bewacht von nun an wieder seine Kühe und Schafe.

Über die Autorin

Lena Gossens (24) entdeckte ihre Liebe für Abenteuer in den kanadischen Rocky Mountains. Begeistert von unberührter Wildnis und dem Drang, diese zu schützen, während man sie bereist, hat sie Nachhaltigen Tourismus studiert und führt nun als Expeditionsleiterin für die Reisecommunity ExpeditionXplore nachhaltige Abenteuerreisen an abgelegene Orte dieser Welt.

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