Auf dem Fluss

Dreissig Tage, zwei Männer und ein Kanu: So beginnen Abenteuer. Andy Keller und André Lüthi reisen 1990 nach Kanada, um auf dem Clearwater River in die Wildnis abzutauchen und 450 Kilometer zurück in die Zivilisation zu paddeln. Unsere Nostalgiereportage aus dem Globetrottermagazin Nr. 28 (Winter 1990/1991).

Ausgabe: Nr. 28     Text: Andy Keller     Fotos: Andy Keller und André Lüthi

«Hello Jack, good to see you! I am Andy from Switzerland.» Wir begrüssen uns wie alte Freunde, obwohl wir uns heute zum ersten Mal begegnen. Der alte Pilot mit der roten Baseball-Mütze mustert mich und meinen Kanupartner André neugierig lächelnd. «Das sind sie jetzt also, die zwei, die ich zum Oberlauf des Clearwater River rausfliegen und dort in die Wildpis absetzen soll», wird er wohl denken. Dann wirft er einen erstaunten Blick auf unser Gepäck. «Wo ist denn euer Boot?» André deutet auf einen grossen Seesack: «Da drin, es ist ein aufblasbares Expeditionskanu.»

«Ok, what are we waiting for?» Jack blickt ungeduldig in die Runde. Ihm scheint es hier in der Stadt nicht zu behagen. «Let’s get out of here!» Minuten später sitzen wir im Wasserflugzeug und überfliegen Fort McMurray, die kleine Stadt im Nordwesten Kanadas am Ufer des Flusses, der die kommenden Wochen unser Zuhause sein wird. In etwa vier Wochen wollen wir die Stadt wiedersehen, dann von Norden her kommend, auf dem Clearwater River paddelnd.

Wie unbedeutende Winzlinge

Mit zusammengekniffenen Augen, die Kopfhöhrer über die Ohren gestülpt, sitzt Jack im Cockpit und blickt konzentriert auf die Seen- und Waldlandschaft, die unter uns durchzieht. Mit der Linken umklammert er den Steuerknüppel, in der Rechten hält er die Landkarte. Unser bevorzugter See für die Landung (oder besser Wasserung), dort wo der Fluss entspringt, scheint allerdings für den Piloten ein Problem zu sein. Er deutet mit dem Finger auf einen kleinen blauen Punkt auf der Karte und schreit mir durch den Motorenlärm ins Ohr: «Dieser See ist für eine Landung wahrscheinlich zu wenig tief» Ich muss wohl einen enttäuschten Gesichtsausdruck angenommen haben, denn Jack kratzt sich am Kopf und brüllt mir noch lauter ins Ohr: «Ok, I try that lake!»

Wir ziehen nun schon die zweite Schleife über dem See, doch Jack ist immer noch nicht zufrieden. Er hat den optimalen Landeanflug noch nicht gefunden. Beim dritten Versuch klappt es schliesslich, und wir setzen weich auf. Erst jetzt sehen wir, wie recht der erfahrene Pilot gehabt hat: Der See ist kaum vierzig Zentimeter tief. In Ufernähe laden wir unsere Gepäcksäcke auf die Schultern und waten durchs knietiefe Wasser an Land.

Minuten später donnert das kleine Flugzeug keine zehn Meter über unsere Köpfe hinweg. Der sympathische alte Pilot verabschiedet sich auf seine Weise. Noch eine Weile ist das Motorengeräusch zu hören, dann ist Stille. Nur das Summen der Insekten und das leise Plantschen der Wellen, die ans Ufer schlagen, ist zu vernehmen. André und ich schauen einander an, beide haben wir ein Lächeln auf dem Gesicht, das einerseits Freude, andererseits aber auch Spannung vor· dem Ungewissen ausdrückt. Wir spüren, dass wir im Moment wohl ähnliche Gefühle haben. Der einzige Weg, der uns wieder zurück in die Zivilisation bringt, ist der Wasserlauf des Clearwater River – und das bedeutet 450 Kilometer paddeln bis Fort McMurray. Dann beginnen wir – zwei unbedeutende Winzlinge inmitten von Tausenden von Quadratkilometern unberührter, menschenleerer Natur –, das Kanu aufzupumpen, das nun unsere Arche ist.

Survival will gelernt sein

Nachdem die Material- und Essenssäcke kanugerecht gepackt sind, beladen wir zum ersten Mal das Boot. Als alle Säcke verstaut sind, schauen wir uns bestürzt an. In diesem vollbepackten Kanu sollen jetzt auch noch zwei Menschen Platz finden? Von der Spritzdecke, die wir bei Wildwasser oder Regen übers ganze Boot ziehen können, gar nicht zu reden. Das Gepäck türmt sich so hoch, dass wir diese Decke im Moment vergessen müssen. Zum Glück wird während der ersten Tage der Reise nicht mit schwierigem Wildwasser zu rechnen sein, und am Himmel sieht es nicht nach Regen aus, die Sonne brennt auf uns herunter. Ausserdem wird das Gepäck mit jedem Bissen, den wir runterschlucken, kleiner und leichter.

Wir zwängen uns zwischen die Säcke, stossen vom Ufer ab und paddeln langsam, beinahe ein bisschen ehrfürchtig, über den See, dem kleinen Ausfluss entgegen, der ab dort Clearwater River heisst. Der Fluss ist hier am Oberlauf noch sehr schmal und nicht sehr tief. Durchs glasklare Wasser kann man den sandigen Grund gut erkennen. Manchmal stossen wir mit den Paddeln an oder fahren auf Sandbänke auf. Heute bleibt uns nicht mehr viel Zeit zum Paddeln, denn wir wollen das Camp jeweils nicht zu spät aufbauen.

Am Anfang brauchen wir noch viel Zeit, bis das Kanu entladen, das Zelt aufgestellt, Holz gesucht, Feuer gemacht und gekocht ist. Dann muss immer alles Essbare weit weg vom Zelt, unerreichbar für hungrige Bären, in die Bäume gehängt werden. Erstes Gebot beim Zelten in der Wildnis Kanadas lautet: Nichts Essbares im Zelt. An diesem ersten Abend ist es schwierig, einen passenden Baum zu finden. Es gibt keine starken Bäume mit langen Ästen. Die kleinen, verkrüppelten Tannen sind zu wenig hoch und halten dem Gewicht unserer Säcke nicht stand. Wir spannen zwischen zwei etwas kräftigeren Bäumen ein Seil und versuchen, das Essen raufzuziehen. Keinen Millimeter bewegt sich die Last in die Höhe! Ächzend und stöhnend, stossend und stemmend schaffen wir es schiesslich doch. Die Säcke baumeln gut drei Meter über dem Boden. Verschwitzt, aber beruhigt laufen wir zum Zelt zurück. Unsere Vorräte bedeuten hier draussen in der Wildnis nicht einfach Essen, sondern Überleben.

Der erste Fisch

Der Fluss wird steiniger und führt jetzt auch schon mehr Wasser. Die ersten kleinen Rapids (Stromschnellen) lassen uns jauchzen vor Freude. Unser Kanu wurde speziell für Wildwasser konzipiert, und die Fahreigenschaften im schäumenden Wasser sind phantastisch. Doch auch schon hier, bei den ersten, an sich noch harmlosen Rapids müssen wir voll konzentriert fahren. Immer wieder ragen Steine aus dem Wasser, die wir oft erst im letzten Moment sehen. Nach einer grösseren Stromschnelle wird das Wasser sehr tief, bleibt aber voller Strudel und in Bewegung.

Mein Instinkt sagt mir, dass es hier Äschen geben müsste. Diese kämpferischen Fische, die zur Familie der Lachse und Forellen gehören, lassen jedes Fischerherz höher schlagen. Ich werfe den kleinen Blinker zwei-, dreimal genau in den Strudel und ziehe den leuchtenden Köder langsam durch die Tiefe. Da, ein kräftiger Ruck, und ich spüre, dass ein grösseres Exemplar angebissen hat. André hält das Netz griffbereit. Doch zuerst muss der Fisch zum Boot ran. Er wehrt sich mit aller Kraft, will unters Kanu flüchten und springt aus dem Wasser. Doch der Gegner ist übermächtig: Ich mit der starken Schnur, André mit dem Netz. Stolz wäge ich die schöne Äsche in der Hand, sie ist bestimmt über ein Kilo schwer. Unser erster Fisch! Zwei Stunden später brutzeln die Filets in der Pfanne auf dem Lagerfeuer.

Sturm über dem See

Am Lloyd Lake, dem ersten – und einzigen grossen – See auf unserer Reise, ändert sich endlich das Landschaftsbild. Ein eisiger Wind fegt über den See. Ob wir ihn bei diesem Sturm überqueren können? Die Wellen mit weissen Schaumkronen flössen uns Respekt ein, und wir beschliessen, erst mal ein Stück dem Ufer entlangzufahren. Zuerst geht alles gut, doch dann werden die Böen so stark, dass alles Paddeln nichts mehr nützt und wir manövrierunfähig im Wind driften. Zum Glück treibt er uns nicht auf den See hinaus. Wie es aussieht, sollten wir irgendwo am felsigen Ufer landen, das etwa einen Kilometer vor uns liegt. Hoffentlich zerschellen wir nicht an den Felsen!

«Nur keine Panik – wir werden genau in die kleine Bucht einfahren, ich spüre es», ruft André in den Wind. «Siehst du sie?» Jetzt sehe ich sie auch. Doch woher um alles in der Welt nimmt er die Zuversicht, dass uns der Wind genau in jene kleine Bucht treibt? Die Möglichkeit, dass wir irgendwo am Ufer an einem Felsen landen, ist mindestens zehnmal grösser. Ich sehe, wie sich die Wellen spritzend an den Felsen brechen. Hier mit unserem Bood angeschwemmt zu werden, wäre gefährlich. Nun, da gibt es ja noch Andrés Instinkt. Wie Surfer rasen wir aufs Ufer zu, und wie von magischer Hand geleitet, treiben wir in die sichere Bucht und fahren auf dem sumpfigen Strand auf.

Etwas verloren stehen wir am Ufer und schauen uns um. Der Wald ist hier sehr dicht, beinahe undurchdringlich. Falls der Wind nicht nachlassen sollte und wir gezwungen wären hierzubleiben, wäre das sehr mühsam, denn für das Zelt gibt es hier keinen Platz zwischen den engstehenden Bäumen. Mit der Zeltunterlage bauen wir einen provisorischen Windschutz und kochen auf dem Benzinkocher eine warme Suppe. Hinter der schützenden Wand fallen aber bald die Moskitos über uns her. Wir haben die Wahl: Entweder vor dem Windschutz ein gefrorenes Gesicht oder dahinter ein zerstochenes – was ist wohl besser?

Nach zwei Stunden lässt der Sturm etwas nach, und wir nutzen die Gelegenheit zum Aufbruch. An der schmalsten Stelle stechen wir bei hohem Wellengang über den See und müssen dabei alle Kraft in jeden einzelnen Paddelschlag geben. Erschöpft erreichen wir das andere Ufer, wo die Belohnung für die Anstrengungen auf uns wartet: Ein herrlicher, windgeschützter Camp-Platz! Bald ist das Zelt aufgestellt, der Kochtopf steht auf dem Feuer, und die Sonne versinkt als Feuerball hinter dem Wald.

Durchs Dickicht und wilde Wasser

Heute erwarten uns gemäss Karte drei grosse Rapids. Wie werden die Stromschnellen wohl aussehen? Werden wir mit dem schwerbeladenen Kanu durchkommen? Hoffentlich, denn mit unseren schweren Gepäcksäcken würde jede Portage äusserst mühsam.

Die erste Schnelle sieht einfach aus, doch merken wir nach der Durchfahrt, dass dies erst die Vorspeise gewesen ist. Nach einer Kurve beginnt nämlich das richtige Wildwasser erst. Wir besichtigen die heikle Stelle und erkennen schnell, dass wir diese Schnelle nicht fahren können. Es ist zu riskant. Wir können uns hier draussen, viele Tagesreisen weg von der Zivilisation, einfach keine Kenterung mit eventuellem Material- oder Esswarenverlust leisten. So bleibt uns nichts anderes übrig, als zum ersten Mal alles durch den Wald zu schleppen.

Doch das ist leichter gesagt als getan. Es gibt hier natürlich keinen Portageweg. Über umgestürzte Baumstämme und durch dichtes Gebüsch tragen und zerren wir das Gepäck. Oft müssen wir uns mit den Messern einen Weg frei schlagen. Wir laufen die Strecke dreimal mit Gewicht auf Rücken und Schultern und zweimal leer zurück. Das heisst, wir lassen uns fünfmal von den blutsaugenden Biestern zerstechen, kratzen uns fünfmal im unwegsamen Gelände die Füsse blutig. Als Höhepunkt balancieren wir mit dem Boot auf dem Kopf über Stock und Stein durchs Dickicht.

Bärenbegegnungen

Bär! Wir rufen das Wort beinahe gleichzeitig. Zum Glück steht der Wind gegen uns, sonst hätte das Tier uns bestimmt gehört, oder es würde uns riechen. So haben wir Gelegenheit, den grossen Schwarzbären in aller Ruhe zu beobachten, wie er gemächlich, uns den Rücken zugekehrt, dem Ufer entlangtrottet. Dann steigt er, immer noch ohne uns gesehen zu haben, ins Wasser und beginnt den Fluss zu durchschwimmen. Unglaublich, mit welcher Geschwindigkeit er schwimmt. Als er etwa in der Flussmitte angelangt ist, bemerkt er das Kanu und beginnt sofort zu beschleunigen. Im Nu erreicht das Tier das Ufer und verschwindet schnell im Wald.

Die gefährliche Wasserwalze

Wir hören den Rapid schon von weitem. Die ersten paar hundert Meter geht alles gut. Der Fluss ist wie erwartet wild und wellig, aber mit unserem Expeditionskanu durchaus befahrbar. Dann, nach einer leichten Rechtskurve, wird’s kritisch. Wir haben die Situation von oben total falsch eingeschätzt, aber nun gibt es kein Zurück mehr. Wir sind zu schnell, um noch irgendwie ans Ufer zu paddeln.

Das Wasser wirkt ganz ruhig, bevor es links und rechts von diesem riesigen Stein in die Tiefe schiesst und sich links in einer bedrohlichen Wasserwalze und rechts in gewaltigen Wellen sammelt. Absolut ruhig fliesst es dahin vor dem Fall. Aus dem fahrenden Boot sehe ich diesen schwarzglänzenden Wasserspiegel nur für Sekundenbruchteile, aber er prägt sich mir ein. Diese glatte Wasserfläche vor dem grossen Stein.

André reisst mich aus meiner Betrachtung. Er ruft nicht mehr, er schreit. «Links vom Stein, links, gerade rein!» Ich ziehe das Boot wie mechanisch nach links, und André steuert das Kanu gerade auf die Schwelle zu. Dann stürzen wir in die Tiefe. André muss jetzt irgendwo hinter mir noch da oben auf dem ruhigen Wasser sein. Die Spitze des Kanus taucht tief in die Wasserwalze ein. Wasser klatscht mir ins Gesicht, ich sehe für einen Moment nichts mehr. Dann merke ich, wie sich das Boot mit Wasser zu füllen beginnt.

In diesem Augenblick habe ich nur einen Gedanken: «Bitte, Bootsspitze, tauche aus dieser Walze auf, bitte! Bitte, Kanu, komm aus dieser Walze raus!» Dann, es scheint eine Ewigkeit zu dauern, in Wirklichkeit sind es wieder nur Bruchteile einer Sekunde, sehe ich die Spitze des Kanus wieder. Wir liegen immer noch in der geraden Fahrtrichtung! Dann höre ich André wieder schreien.

Beruhigend, ihn zu hören – er sitzt also auch noch im Boot. «Links raus!» Mit letzter Kraft paddeln wir ans steinige Ufer. Ich drehe mich um und blicke André an. Er schüttelt wortlos den Kopf, und auch ich bringe kein Wort hervor. Das war knapp. Wir hätten diesen Rapid niemals fahren dürfen. Walzen dieser Art sind sehr gefährlich und wohl die Hauptursache für schlimme Wildwasserunfälle. Der vermeintlich fertige Portageweg hat uns einen bösen Streich gespielt. Nun, für einmal haben wir Glück gehabt; dazu kam die Erfahrung und der Instinkt von André, im entscheidenden Moment den richtigen Kurs einzuschlagen.

Gedanken zu einem Flussleben

Die Sonne beginnt sich bereits rot zu verfärben, doch hat sie noch genügend Kraft, um etwas meinen Rücken zu wärmen. Ich sitze auf einem Felsen über dem Fluss und schaue dem Wasser zu, wie es unter mir durch einen kleinen Canyon braust und sprudelt. Ein herrlicher Platz, um dem Fluss zuzuschauen und zu sinnieren.

Vor zwei Wochen begann unsere Kanureise. Der Clearwater River war damals noch ein schmales, seichtes Flüsschen. Noch recht unsicher suchte das Wasser seinen Weg durchs enge Flussbett, als ob es das Fliessen erst lernen müsste. Dann wurde der Wasserlauf langsam breiter, die ersten unruhigen Passagen folgten, und der Clearwater wurde zu einem richtigen Fluss – das Gewässer wurde gewissermassen erwachsen. Ja der Lauf des Flusses erscheint mir wie ein menschliches Leben. In den letzten Tagen, der Mitte unserer Reise, wechselten wilde Stromschnellen und ruhige Abschnitte immer wieder ab. Es scheint sogar, dass besonders turbulente Stellen und Wasserfälle völlig unerwartet nach trügerisch ruhigen Abschnitten auf uns zukommen.

Die Kenterung

Der Clearwater wird wieder schneller und steiniger. Eine Wildwasserstrecke folgt der anderen. Mit Sperberaugen versuche ich Hindernisse frühzeitig zu erkennen und rufe André zu, was sich im Flusslauf vor uns tut. «Grosser Stein geradeaus, wir fahren links davon; Achtung, mehrere Steine in Sicht, eher rechts steuern!» Diese Flussabschnitte erfordern höchste Konzentration – und viel Kanuerfahrung. Wir sind froh um unser wendiges Expeditionskanu. Mit einem offenen, normalen Kanadierkanu gäbe es hier wohl kein Durchkommen.

Vor einer besonders steinigen, schnellen Passage teilt sich der Clearwater. Wir entscheiden uns für die schmalere Seite mit weniger Wasser. Der Wasserlauf zwischen den Steinen ist aber hier so eng, dass unser Kanu kaum Platz findet. Wie bei einem Slalomlauf schlängeln wir uns durch. Doch dann wird es noch enger. Zu eng. Der Stein vor uns ragt nur wenig aus dem Wasser, doch genug, um uns den Weg abzuschneiden, denn links und rechts von ihm gibt es kein Durchkommen. Es ist keine grosse Sache, nichts Furchterregendes, aber eben doch ein grosser Stein, der im Wege steht. Wir fahren auf, die Strömung dreht uns ab, und wir kippen seitwärts über die Schwelle. Mit den Köpfen nach unten, Bootsboden gegen den Himmel, treiben wir im ruhigeren Wasser nach der Schwelle. Zum Glück ist der Fluss hier nicht sehr tief, und wir können das Kanu problemlos an Land ziehen. Eine rasche Gepäckkontrolle beruhigt uns: Alle Säcke noch da, kein Materialverlust.

Natürlich sind wir und das Gepäck durch und durch nass. Wie sich später herausstellt, hielten nicht einmal die an sich wasserdichten Kanusäcke mit den Wertsachen, Kameras und Filmen dicht. Eine Kamera und ein Blitzgerät überstehen die Kenterung leider nicht schadlos, sie funktionieren nicht mehr. Die Esswaren sind zum Glück trocken geblieben.

Von Anstrengungen, Müdigkeit und Langsamkeit

Der Rücken schmerzt. Moskitos lassen sich beliebig auf meinem Oberkörper nieder, der von Schweiss trieft, doch ich habe keine Hand frei, um die Biester ins Jenseits zu befördern. Ich brauche meine Hände, um das Boot auf dem Kopf zu stabilisieren. Wir marschieren wieder einmal mit dem Kanu auf dem Kopf und schweren Säcken am Rücken durch den Wald. André beginnt immer zu singen, wenn er eine gewisse Leistungsgrenze erreicht hat. Er ist zwar genauso abgekämpft wie ich, doch auf seine Stimme hat das keinen Einfluss. Im Gegenteil, nie singt er schöner als bei extremer Anstrengung.

Und dieser optimistische Gesang wirkt ansteckend. Wir bewältigen auch die schlimmsten Portagen durch Dickicht und Sumpf guten Mutes. Heute sind es gleich deren fünf. Zwei davon führen uns an wunderbaren Wasserfällen vorbei. Der Clearwater stürzt sich über mehrere Stufen in die Tiefe. Da wir jede Portage zweimal durchlaufen müssen und dazwischen immer noch eine Leerstrecke liegt, sind es heute zwölf Kilometer, die wir durch den Wald keuchen. Dies an einem Paddeltag mit etwas dreissig Kilometern. Kein Wunder, sinken wir abends todmüde ins Zelt.

Geschafft!

Heute werden wir die letzten Wildwasserabschnitte des Clearwater River befahren. Laut Karte und Flussbeschreibung sind es zwei mehrere Kilometer lange, sehr kurvige und steinige Rapids, aber ohne extreme Schwierigkeiten. Sollen wir die langen Portagen laufen oder den Versuch wagen durchzupaddeln? Mein Rücken schmerzt noch von vergangenen Portagen durch den Wald. Dies darf natürlich den Entscheid nicht beeinflussen. Wenn das Risiko zu gross ist, müssen wir tragen, Rückenschmerzen hin oder her.

Wir entscheiden uns schliesslich dafür, es zu versuchen. Immer möglichst weit voraussehend, um bei einer auftauchenden Schwierigkeit ans Ufer rüberzuziehen und die heikle Stelle genauer zu besichtigen.

Noch einmal geniessen wir das prickelnde Gefühl, in eine unbekannte Wildwasserstrecke einzufahren. Noch einmal konzentrieren wir uns auf den Wasserlauf und kurven um die Hindernisse. André und ich sind nun schon so gut aufeinander eingespielt, dass wir auch die problematischsten Passagen schaffen. Nach der letzten Schwelle brechen wir in Jubel aus. André springt vor lauter Freude ins Wasser. Wohl sind es noch drei harte Paddeltage bis Fort McMurray, doch die letzten Rapids liegen hinter uns!

Abschied vom Fluss

Die Flammen züngeln rötlich-gelb unter dem russigen Kochtopf und halten das Pilzrisotto am Köcheln. Ich habe mir beim Zubereiten des heutigen Nachtessens ganz besonders Mühe gegeben. Es ist unser letztes am Clearwater River. Wenn alles gut geht, werden wir morgen abend in einem Hotelzimmer in Fort McMurray unter der Dusche stehen.

Die Wildnis verabschiedet sich von uns mit einem phantastischen, stimmungsvollen Abend. Das Licht der untergehenden Sonne taucht alles in warme Farben. Der Rauch des Lagerfeuers zieht über den Fluss, der wie ein Spiegel vor uns liegt und die weissen Birkenstämme reflektiert. Wir sitzen heute noch lange am Fluss. Ruhig, ohne miteinander zu sprechen.

Am nächsten Morgen liegt dichter Nebel über dem Wasser. Der Herbst kündigt sich an. Beim Paddeln durchs dichte Grau können wir mehr erahnen denn erkennen, wie der Fluss läuft. Dann brechen die ersten Sonnenstrahlen durch den Nebel. Wir lassen uns treiben, um noch einmal die Stimmungen um uns herum zu geniessen.

Stunden später, nach anstrengendem Paddeln im Gegenwind, die ersten Häuser, die ersten Strassen und Autos…

Nach unruhigem Schlaf erwache ich früh am Morgen im Hotelzimmer in Fort McMurray. Das Leben unter freiem Himmel fehlt mir. Ich fühle mich eingesperrt in diesem Raum, starre an die Zimmerdecke und sehe das grüne Flussufer vor mir, spüre die Sonne und den Wind im Gesicht und rieche den Rauch des Lagerfeuers…

Nein, in diesem Zimmer kann ich nicht weiterschlafen. Ich muss raus hier. André, der noch tief schläft und wohl von seiner Freundlin träumt, lege ich einen Zettel hin: Bin am Clearwater.

Dann laufe ich durch die ausgestorbenen Strassen der Stadt zum Fluss hinunter und setze mich an sein Ufer.

Über den Autor

Andy Keller übernahm 2008 die Chefredaktion des Globetrotter-Magazins. Seither begleiten ihn seine Lieblingstätigkeiten Lesen, Schreiben, Fotografieren und Reisen täglich im Berufsalltag. Er ist auch Geschäftsleiter des Globetrotter Club und Verwaltungsrat des Globetrotter Travel Service.

André Lüthi hält nicht nur sein Kanu, sondern auch die Globetrotter Group erfolgreich auf Kurs. Von 1992 bis 2012 war André Lüthi Geschäftsführer des Globetrotter Travel Service. Seit 2013 ist er Verwaltungsratspräsident des Globetrotter Travel Service und CEO der Holding Globetrotter Group.

Dieser Artikel erschien im Globetrotter-Magazin Nr. 28 im Winter 1990/1991 in Originallänge.

«Das Reisemagazin für Weltentdecker – seit 1982»

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