Dede Suryana (32) ist aus seiner kleinen Welt ausgebrochen, um auf seinem Surfbrett die Welt zu erobern. Das ist ihm gelungen. Nun ist er ins Dorf zurückgekehrt.
Ausgabe: Nr. 124 Text: Aline Wüst Foto: Jonathan Voellmy
Es ist schon ein paar Jahre her, seit in der Surfwelt das Gerücht die Runde machte, dass der Bub eines Reisbauern surfe, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Der Bub, über den sie sprachen, war Dede Suryana. Cimaja heisst das Dorf, aus dem er kommt. Damals ein kleines Dorf, heute noch ein kleines Dorf. Viel gibt es da nicht. Reisfelder überall. Nasi Goreng überall. Die Hauptstrasse ist viel befahren. Cimaja liegt auf der Insel Java, einer der am dichtesten besiedelten Gegenden dieser Welt. Die Menschen sind nicht reich, aber auch nicht so arm, dass sie einen Roller nicht ihr Eigen nennen könnten. Die Moschee gibt den Takt in ihrem Leben an. Unten am Meer türmen sich die Wellen. Und diese haben Dede schon immer mehr angezogen als die Moschee.
Von der Hauptstrasse zweigt ein kleiner Weg ab, vorbei an Wasserbüffeln, vorbei an Reisfeldern. Dann zeigt es sich – das Meer. Kein Sandstrand, sondern kleine runde Steine und Abfall, überall. Mühelos geht Dede über Steine, ausgewaschene Plastikflaschen, Schwemmholz und Autoreifen. Er nimmt das Surfboard in beide Hände, wartet einen Moment, bis das Wasser die Steine umspült, und springt hinein. Ein paar kräftige Paddelzüge mit den Armen, und schon ist er draussen. Die Wellen sind hoch. Klar habe er manchmal Angst, hat er zuvor am Strand noch gesagt. Eigentlich immer. Aber die Lust, auf der Welle zu reiten, sei grösser. Dann plötzlich ist er drin in einer solchen Welle. Sie verdeckt ihn einen kurzen Moment, bis sie ihn wieder freigibt. Dede lacht, streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Am Strand stehen Touristen aus Jakarta und machen Selfies.
Mit Surfen angefangen hat Dede im Alter von sieben Jahren. Auf Bananenblättern, so erzählt es die Mutter. Vorbilder waren seine älteren Brüder, die ersten Surfer im Dorf. Doch Dede wollte mehr und besser werden. Darum sah er sich abends so viele Surffilme an, wie er auftreiben konnte, und probierte die Tricks am nächsten Tag selber in den Wellen aus.
Das Meer und die Javaner, das ist ein schwieriges Thema. Denn jeder hier kennt die Geschichte von der Königin der Meere, die angetan ist von der Farbe Grün und jeden in die Tiefen herunterzieht, der es wagt, ihr Reich mit etwas Grünem am Leib zu betreten. Also halten die Menschen Abstand. Ihr Reich sind die Reisfelder.
Dedes erstes Brett war ein gebrochenes Surfboard. Er bat einen ausländischen Surfer, es ihm zu überlassen, reparierte es sorgfältig und trug es stolz jeden Abend zum Strand. Um ehrlich zu sein: Er trug es auch schon morgens zum Strand. Und manchmal trug er es auch dann zum Strand, wenn er eigentlich in der Schule hätte sitzen sollen. Seine Eltern waren davon nicht angetan. Sie wollten, dass er lernte. Damit er später Arzt oder Polizist werden könnte. Heute, mehr als 20 Jahre später, nimmt Dede seine Eltern in Schutz: «Wie auch hätten sie sich vorstellen können, dass ich einmal mit dem Surfen Geld verdienen würde?»
Und so nahm alles seinen Lauf: Dede surfte, wurde entdeckt, eine indonesische Firma sponserte ihn. Die Freunde aus der Schule waren eifersüchtig, und Dede begann zu träumen – von einem Haus, einem Auto und einem grossen Fernseher. Im Alter von 15 Jahren kam die Entscheidung: Entweder bleibt er hier und wird Reisbauer, oder er verlässt sein Dorf, geht weg. Weg von Java, auf nach Bali. Die Mutter war nicht begeistert. Auf der hinduistischen Insel würde ihr Sohn bestimmt «Balisachen» machen, sorgte sie sich. «Balisachen»? Coca Cola trinken beispielsweise. Wie recht sie hatte. Dede brach auf. Zwei Tagesreisen mit Bus und Schiff, und er kam in einer anderen Welt an. Surfen war in Bali ebenso Lifestyle wie wilde Partys feiern, mit Bikini oder Badehose auf dem Roller durch die Gegend fahren und sich zum Bräunen in die Sonne legen. Hier war plötzlich alles möglich. Doch Dede war anders. Zwar waren auch seine Haare ausgebleicht von der Sonne und dem Schwimmen im salzigen Wasser. Doch vor der Königin der Meere fürchtete sich hier auf Bali niemand. Dafür vor Muslimen. Denn kaum war Dede in Bali, sorgten Attentäter aus Java für Schrecken auf der Insel. Dedes Welt wurde auf den Kopf gestellt. Aufgeben wollte er nicht. Denn für ihn ging es um alles oder nichts. Er musste Geld verdienen, dachte an seine Eltern und seine sechs Geschwister zu Hause in Cimaja. Während sich viele andere Surfer in Partyexzessen und Frauen verloren, blieb Dede fokussiert. Als seriös bezeichneten ihn die anderen Surfer. Es lohnte sich. Bald bekam er zwei neue Sponsoren: Quicksilver und Coca Cola. Fortan wurden ihm diese «Balisachen» also frei Haus geliefert.
Das Surfen war Dedes Tor zur Welt. Und die endete nicht in Bali. Bald reiste er für Surfwettbewerbe nach Australien, in die USA und nach Europa. Für den jungen Indonesier war es oft schwierig, die erforderlichen Visa zu erhalten. Und in seinem Umfeld hatte er niemanden, der ihm zeigen konnte, wie das geht. Mithilfe der Kontakte von Leuten, die er in Bali kennengelernt hatte, holte er sich via Facebook Rat und organisierte sich ein Bett, wenn er an Wettkämpfe reiste. Er begann, Geld zu verdienen mit dem Surfen, kaufte sich ein Haus auf Bali, ein Auto und einen grossen Fernseher. Immer weiter kletterte er die Erfolgsleiter hinauf. Bis er schliesslich die asiatische Surfmeisterschaft gewann und an der Qualifikationstour für die Weltmeisterschaft teilnehmen konnte. Zehn Jahre vergingen.
Und irgendwann sagte Dedes Mutter, dass es nun Zeit sei, eine Frau zu finden und Kinder zu haben. Dede, der zwar glücklich war, aber das Glück doch nicht gefunden hatte in der Ferne, gab ihr recht. Er kehrte zurück nach Java, heim in sein Dorf. Dorthin, wo die Kinder Drachen steigen lassen zwischen den Reisfeldern und es noch immer undenkbar ist, dass ein Paar Kinder hat, ohne verheiratet zu sein.
Geändert hatten sich zwei Dinge in den Jahren, in denen Dede weg war: Der tolerante Islam war auf Java unter Druck geraten. Und in Cimaja freuten sich Eltern nun, wenn ihre Kinder surften. Denn dass man davon leben kann, hat Dede vorgemacht.
Das Gewitter kommt plötzlich und bringt Kühle. Dede sitzt am Tisch seines grossen Wohnzimmers und erzählt, was sich nicht verändert hat hier in Cimaja: die Angst vor der Königin der Meere. Dede aber fürchtet sich nicht mehr vor ihr. Dafür, dass immer wieder Menschen im Meer ertränken, gebe es andere Gründe. Erstens: Die Javaner sind keine besonders guten Schwimmer. Besonders die Frauen nicht, weil sie mit Jeans und Kopftuch baden. Zweitens kennen die Menschen hier die Strömungen des Meeres nicht. Er aber habe alles darüber gelernt. Wenn es eine Strömung gebe, die aufs Meer hinausziehe, nutze er sie und müsse so nicht mit eigener Kraft hinauspaddeln. «Nichts als logisch», meint er. Ja, er glaube an Geister, aber er glaube auch, dass jeder verstehen müsse, wovor er sich fürchte. Darum schere er sich heute nicht mehr darum, ob er mit einem grünen oder weissen Surfboard ins Meer steige. Er lächelt zweideutig und sagt: «Es kann vielleicht auch ganz schön sein, der Königin der Meere nah zu kommen.»
Obwohl wieder zurück im Dorf, ist Dede ein Pendler zwischen den Welten. Dass er unterwegs an Surfcontests auch Alkohol trinke, dürfe hier niemand wissen. Ist er hier, betet er fünfmal am Tag gegen Mekka und glaubt, dass es Sünde ist, wenn seine Frau kein Kopftuch trägt. Dede glaubt aber auch an Karma.
Geheiratet hat er eine kecke Javanerin, die sagt, sie könne kaum zuschauen, was ihr Mann da draussen auf den Wellen mache. Die beiden haben eine Tochter. Dede hat für seine Familie ein Haus gebaut. Darin gibt es einen Quicksilver-Surfshop, den er führt. Noch immer nimmt er an Surfwettbewerben teil. Letztes Jahr gewann er zum zweiten Mal die asiatische Meisterschaft.
Weg von Cimaja will Dede aber nicht mehr. Hier habe er alles. Hier sei er glücklich. Er sei dankbar für alles, was er erreicht habe, sagt er und schiebt nach, dass Dankbarkeit überhaupt das Wichtigste im Leben sei. Aber eben: Das Glück liege nicht im Geld und im Erfolg. Glücklich machten ihn seine Frau und seine Tochter. Und seine Tochter werde nun zwar im gleichen Dorf aufwachsen wie er, aber trotzdem in einer anderen Welt leben. «In meiner Welt», sagt er. Er werde sie weder dazu drängen, Surferin zu werden, noch ihr in einer anderen Weise eine bestimmte Richtung im Leben aufzwingen. Er werde sie stattdessen fragen, wer sie sein wolle. Sie darin unterstützen und ihr vorleben, stets einen offenen Geist zu haben. Doch noch ist seine Tochter klein, und die grossen Fragen des Lebens sind weit weg.
Dede aber tut heute, was er schon als Kind immer tat. Fast jeden Tag nimmt er den schmalen Pfad, der von der Hauptstrasse abzweigt, geht vorbei an Wasserbüffeln, vorbei an Reisfeldern. Bis es sich zeigt – das Meer. Er geht über den Strand, umfasst das Brett, wartet, bis eine Welle kommt, springt hinein. Surfen macht ihn glücklich. Auch dann, wenn kein Preisgeld wartet und keine Zuschauer jubeln. Da draussen sind dann einfach nur er und die Wellen und vielleicht noch die Königin der Meere. Wer weiss.
Über die Autoren
Die Journalistin Aline Wüst und der Fotograf Jonathan Voellmy sind kürzlich von ihrer Reise durch mehrere Kontinente zurückgekehrt. In der Serie «Getroffen in…» berichten die beiden von besonderen Begegnungen rund um den Erdball.