Königliche Bergwelt

 

Die höchsten Berge der Welt ziehen kristallklar wie in einem Film an der Luke des Propellerfliegers vorbei. Meine Vorfreude steigt. Ich bin auf dem Flug von Nepals Hauptstadt Kathmandu nach Tumlingtar im Osten des Landes.

Acht Mal war ich seit 2000 in Nepal zum Trekken. Und seit der ersten Tour ins Everestgebiet hat mich das kleine Land im Himalaya mit seinen herzlichen, zurückhaltenden Menschen nicht mehr losgelassen. So bin ich immer wieder zurückgekehrt, bin tage- und wochenlang durch Täler und über Pässe gewandert, habe etliche Sechstausender bestiegen, in Hütten und Zelten übernachtet und viele Träger, Köche, Guides, Bauern, Lehrer und Familien kennen-, schätzen und gernhaben gelernt.

Bevor das Trekking losgehen kann, müssen wir knapp zwei Tage in einem engen, vollgestopften Allradfahrzeug mit kaputten Stossdämpfern und ausgeleierten Reifen weiter ins Land fahren. Auf der wohl schlechtesten, staubigsten und löchrigsten Strasse der Welt und in kurvigem Auf und Ab erreichen wir schliesslich Barun Dovan. Von hier geht es endlich zu Fuss weiter.

Ich bin mit meinem Lebenspartner Ueli und elf (!) einheimischen Begleitern unterwegs. Wir wollen über alte Hirtenpfade an den Fuss des Achttausenders Makalu gelangen, dem fünfthöchsten Berg der Welt. Für den Rückweg ist geplant, den besser ausgebauten Weg bis zur Autostrasse zu wandern. Für die ganze Strecke haben wir 16 Tage zur Verfügung.

Unser Trekkingteam besteht aus einem Guide, einem Hilfsguide, einem Koch, drei Küchenhelfern und fünf Trägern. Alle sind hoch motiviert und glücklich, nach der Corona-Zwangspause wieder arbeiten zu können. Prakash, der Guide, und Mingma, der Koch, stammen aus dem Everestgebiet, leben aber in der Hauptstadt Kathmandu. Die Helfer und Träger für unsere Tour kommen aus einem kleinen Dorf, einen Tagesmarsch von unserem Ausgangspunkt entfernt. Alle haben eine schwierige Zeit hinter sich. Während der Pandemie waren sie arbeitslos und ohne Einkommen. Sie haben sich und ihre Familien mehr schlecht als recht selbst versorgt. Nun freuen sie sich, wieder einen Job zu haben und erst noch mit Touristen unterwegs zu sein. Den das bedeutet, mit einem verhältnismässig guten Lohn nach Hause gehen zu können.

Die erste Tagesetappe führt uns auf schmalen, glitschigen Pfaden dem Arun-Fluss entlang. Ich bin vorsichtig, denn ich weiss von Freunden, dass es hier vor wenigen Wochen noch in Strömen regnete, was zur Folge hatte, dass es von Blutegeln wimmelte. Prakash meint zwar, es sei jetzt schon zu trocken für die fiesen Sauger, aber wenn mir etwas das Grauen einjagt, dann sind es Tiere, die sich an mir gütlich tun wollen. So ziehe ich trotz warmem Wetter die Socken über die Hosenbeinenden und knöpfe das Trekkinghemd bis oben zu. Doch als ich nach einer Pinkelpause die Hose zumachen will, spüre ich mit der Hand etwas Weiches an meiner linken Lende. Ich schreie laut auf! Verwirrt schaut mich Prakash an, versteht dann und greift beherzt zu. Zurück bleiben eine blutende Wunde und eine schlotternde Bettina. Doch der Egel ist weg und Prakash für den Rest der Reise mein Held.

Nach vier Tagen Wandern durch buddhistisch geprägte Dörfer, Kardamomfelder und dichten Bergdschungel lassen wir die Baumgrenze hinter uns und erreichen den idyllischen, einsamen Lagerplatz Molun Pokhari. Ob wir einen Ausflug nach Tibet machen möchten, fragt uns Prakash augenzwinkernd. Tibet? Im Ernst? Sind wir tatsächlich so nahe an der Grenze und kann man da einfach so hin?

Lakpa, der mit über 40 Jahren älteste unserer Träger, will uns den Weg zeigen. Lakpa ist sonst Ziegenhirte und kennt die Gegend wie seine Jackentasche. Es herrscht Aufregung, alle wollen mit, obwohl sie im Camp ihre wohlverdiente Ruhe geniessen könnten. Da muss was dran sein. Also dann los! Wir erklimmen die ersten steilen Hänge über Wiesen und gelangen durch niedriges Gestrüpp zu einem mystischen kleinen See mit Insel. «Dieser See ist heilig, ab und zu kommen Pilger her zum Beten», erklärt Lakpa. Unsere Begleiter zollen dem Ort auf ihre Weise Respekt: Sie spielen auf einem Handy laute indische Rapmusik und beginnen lachend und schwatzend zu tanzen. Wahrlich ein Bild für Götter in dieser heiligen Stille und Einsamkeit.

Weiter geht es dem Horizont entgegen. Von einem Pass aus öffnet sich der Blick in ein enges Tal und auf unzählige Hügel. Das soll nun Tibet sein? Die können uns ja alles erzählen, zweifeln Ueli und ich. «Doch, doch! Seht ihr die Gebäude da unten? Das ist ein chinesisches Militärcamp. Ich war schon ein paar Mal dort und habe Zigaretten und Schnaps gebracht. Dafür haben wir jetzt im Dorf ein paar neue Handys», sagt Lakpa.

Wir machen Fotos und wollen uns schon auf den Rückweg machen – etwas skeptisch, ob sie uns da nicht einen Bären aufgebunden haben. «Kommt, ich muss euch noch etwas zeigen.» Wir folgen Lakpa etwas weiter dem Bergkamm entlang. Was ist denn das für ein Gebilde? Wir trauen unseren Augen kaum. Da steht tatsächlich mitten im Nirgendwo ein riesiger Grenzstein. Er ist fein säuberlich angeschrieben: auf der einen Seite Chinesisch, auf der anderen Nepali. Johlend rennen alle darauf zu und die Fotosession nimmt kein Ende. Für die meisten unserer Crew ist es das erste Mal, dass sie die Landesgrenzen überschreiten.

Erwähnenswert ist das Schuhwerk unserer Begleiter, denn die Mehrheit ist mit goldenen Gummistiefeln unterwegs. Wir vermuten, dass im Frühjahr eine chinesische Lieferung der glänzenden Stiefel ins Dorf der Träger gebracht und verteilt wurde. Einziges Manko der Stiefel ist die Einheitsgrösse. Aber Lakpa weiss sich zu helfen: Bei jedem Stopp stopft er die viel zu grossen, mit Stolz getragenen Goldlatschen mit frischem Gras aus und bereitet sich so ein blasenfreies Polster.

Nach zehn Tagen Trekking auf abenteuerlichen Pfaden erreichen wir das Basecamp des Makalu auf 4800 Metern Höhe. Das Wetter ist grau und trist. Hier oben stehen ein paar Blechhütten. Prakash ist optimistisch, dass sich das frühe Aufstehen am nächsten Morgen lohnt. So kämpfen wir uns vor dem Morgengrauen aus dem Schlafsack und siehe da: Uns zeigt sich der tollste Sternenhimmel! Wir kraxeln die steilen Geröllfelder am Fusse des Achttausenders hoch, während der Tag erwacht und die umliegenden Gipfel und Gletscher in fantastische Farben taucht. Sogar der Mount Everest und der Lhotse glühen in der Ferne.

Nach etlichen Stunden und einer leichten Kletterpassage erreichen wir auf 5800 Metern einen kleinen Gipfel, von dem ein Schneegrat direkt zum Makalu zu führen scheint. Ab hier ist ein Weiterkommen ohne Bergsteigerausrüstung schwierig, und unsere Kräfte neigen sich in der dünnen Luft dem Ende zu. Der Höhepunkt des Trekkings ist erreicht. Wir widmen uns einem ausgiebigen Picknick und können uns an der gigantischen Hochgebirgslandschaft kaum satt sehen. Nur Prakash ist beschäftigt und baut einen riesigen Steinmann. Zu seinen Ehren beschliessen wir, diesen einmaligen Aussichtspunkt «Peak Prakash» zu nennen.

Beflügelt von der prächtigen Bergwelt nehmen wir die nächsten Tage den Rückweg in die Zivilisation unter die Füsse. Im engen Tal des Barun-Flusses befinden sich viele Sommerweiden der lokalen Bauern. Am letzten Trekkingtag erreichen wir gegen Mittag unser Ziel an der Strasse und feiern mit unseren liebgewonnenen Begleitern das gelungene Trekking mit Chang, dem lokal gebrauten Gerstenbier, und der unvermeidlichen indischen Rapmusik. Wir stossen an, verteilen Geschenke und Trinkgeld. Nur einer fehlt. Prakash ist wie vom Erdboden verschluckt.

Als wir schon einen Suchtrupp aussenden wollen, erscheint er freudestrahlend aus einem Unterstand mit zwei Tellern in der Hand. Was ist denn das? Mit Augenzwinkern serviert er uns einen echten Kaiserschmarrn mit Kompott aus lokalen Kiwis. Vor Jahren hatte Prakash ein paar Sommer lang als Hilfskraft in einer österreichischen Hütte gearbeitet. Diese «Lehrzeit» hat süsse Früchte getragen und die Abschiedsüberraschung ist mehr als gelungen. Denn eines steht fest: Den leckersten Kaiserschmarrn unseres Lebens haben wir in Nepal gegessen.

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