Autopanne im Nirgendwo
Die meisten Gespräche mit neuen Reisebekanntschaften beginnen in etwa so:
XY: «Wie lange seid ihr schon so unterwegs?»
Wir: «Knapp drei Jahre.»
XY: «Wow. Und mit dem Van hattet ihr noch nie Probleme?»
Wir, in schallendes Gelächter ausbrechend: «Doch. Natürlich!»
Die kühle Bergluft der Anden ist komplett von der drückenden Hitze des Flachlandes verdrängt worden: Im Van herrschen über 30 Grad Celsius und es ist noch nicht einmal Mittag. Unser Ziel Bogota liegt in Reichweite, vielleicht ein oder zwei Tagesetappen entfernt. Wir wollen die hohen Temperaturen so rasch wie möglich hinter uns lassen. Das heisst: durchfahren, bis wir nicht mehr können oder die Nacht einbricht.
Der kleine Handventilator gab gerade den Geist auf und ich rege mich über die Tatsache auf, dass das USB-Kabel nicht lange genug ist, um das Ding zu laden und uns gleichzeitig ein schwaches Lüftchen ins Gesicht zu ventilieren. Sandro tritt auf die Bremse, schaltet zwei Gänge runter und nimmt die Ausfahrt auf die nächste Schnellstrasse. Er bremst noch ein wenig, um in der Einfahrt besser auf die Strasse sehen zu können, kommt fast zum Halten, sieht, dass keiner kommt, schaltet in den ersten Gang, tritt aufs Gaspedal – und ruft aus: «Gopf! Ich krieg den zweiten Gang nicht rein!»
Der Van fährt langsam auf dem Pannenstreifen dahin und Sandro versucht sein Bestes, reisst dabei fast den Schalthebel ab und alles, was mir durch den Kopf geht, ist: Bitte, bitte, bitte, einfach nicht hier den Geist aufgeben. Wir tun, was jeder vernünftige Besitzer eines Gerätes bei Nichtfunktionieren tut: ausschalten und wieder einschalten. Nützt nichts, nur der erste Gang geht rein. Also aktivieren wir die zweite Bewältigungsstrategie für Momente wie diese: abwarten und hoffen, dass sich das Problem von selbst löst. Ach, der Van braucht bestimmt nur eine Pause, ist ja auch sauheiss hier und wir fahren schon seit vier Stunden durch, reden wir uns ein.
Mit fünf Kilometern die Stunde rollen wir im ersten Gang ein paar hundert Meter weiter, wo, zum Glück, das einzige Gebäude weit und breit steht. Ein Autobahnrestaurant, wie vom Himmel geschickt. Etwa 120 Sitzplätze verteilen sich unter einer 20 Meter hohen Palapa, einem Dach aus Palmblättern. Den Van stellen wir zum Abkühlen in den Schatten. Im Restaurant ist nur ein Tisch besetzt, die Serviceangestellte fächert sich mit der Menükarte Luft zu und wir setzen uns mit einem leisen Seufzen hin.
Der Geschmack des bestellten, faden Kaffees verblasst rasch, aber die Enttäuschung darüber, dass die Kupplung auch nach der Verschnaufpause nicht wieder funktioniert, überschattet alles. Ich schaue aufs Handy: kein Empfang. Natürlich nicht. Unsere letzte Hoffnung steht hinter dem Tresen und fächert sich noch immer Luft zu. Die Frau hat Mitleid mit uns Gringos und greift zum Telefon. Wen sie anruft? Keine Ahnung.
Während wir die inzwischen bestellten Pommes essen, herrscht Schweigen. Keiner von uns will aussprechen, was ist: Wir stecken fest. Am heissesten Ort Kolumbiens, vielleicht von ganz Südamerika oder sogar der Welt! Hier lebt kein einziger Mensch weit und breit. Und wir haben keine Ahnung, wie wir dieses Problem lösen sollen.
Eine Stunde später rollt ein Mofa um die Ecke. Auf ihm sitzt ein Mann, hinter ihm ein Junge, der achtjährige Sohn, wie wir später erfahren. Der Sohn hält einen kleinen metallenen Werkzeugkasten in den Händen. Wir schütteln unsere kurzzeitige Depression ab und versuchen zu erklären, was passiert ist: «Es el embrague», es ist wohl die Kupplung. Das spanische Wort für Kupplung hatten wir erst kurz zuvor mal gegoogelt. Der Mann schaut uns zuerst verständnislos an. Bis er kapiert: «Ah! El clutch!» – Ja gut, auf Englisch hätten wirs auch gewusst. Das ist typisch in Lateinamerika: Man denkt, alle sprechen Spanisch, aber in jedem Land wird wieder ein anderes Spanisch gesprochen, mal mit kleineren, mal mit grösseren sprachlichen Unterschieden.
Der Mechaniker spricht sonst allerdings nicht viel und ist auch ziemlich unbeeindruckt von der Tatsache, dass wir offensichtlich keine Kolumbianer sind oder dass wir in dem kaputten Fahrzeug leben. Er legt sich unters Auto, der Sohn reicht ihm ab und zu eines der drei Werkzeuge aus dem Kasten, ich muss auf die Kupplung treten, wieder und wieder. Irgendwann steht er auf und sagt, er wohne ein paar Kilometer weiter, wir sollen mitkommen, dort könne er das Auto flicken.
Ein paar Kilometer ist eine ganz schön weite Strecke, wenn man sie im ersten Gang zurücklegen muss. Bei einer Tankstelle verlassen wir die Hauptstrasse und biegen in eine kleine Siedlung mit vielleicht 100 Einwohnern ein. Das Mofa bleibt vor einem Häuschen stehen, wir stoppen. Es ist mittlerweile unerträglich heiss und feucht wie in einem Bauchnabel. Die Strasse ist nicht geteert, es ist staubig und stickig, der kleine schwarze Haushund hat Angst vor uns und am Baum ist ein Kampfhahn angeleint. Der Mechaniker beginnt, ein paar weitere Werkzeuge aus dem Haus zu holen. Wir stehen einfach da und fragen uns: Ist das seine Garage? Die Strasse vor seinem Haus?
Sandro streckt dem Mann nun erst einmal seine Hand entgegen. Wenn wir etwas gelernt haben, dann, dass es sich immer lohnt, sich mit dem Menschen, der dein Heim und Fahrzeug flicken soll, auf eine Längenwelle zu begeben. Sein Name ist Hector, er lebt schon sein ganzes Leben an diesem Ort. Er ist im gleichen Alter wie Sandro (37), hat acht Kinder, aber das Baby, das gerade seine ersten Schritte im Leben tut, ist nicht seines, sondern das von seiner ältesten Tochter. Sandro fragt bei dieser Gelegenheit auch gleich noch, ob Hector schon einmal ein Auto wie unseres gesehen habe. Er verneint und meint, er arbeite normalerweise an Motorrädern, hier gebe es eben nicht so viele Autos. Sandro und ich setzen uns auf zwei Stühle, hinter uns das Fenster zur Küche, wo Hectors Frau Telenovelas schaut.
Hector bockt den Van auf einer Seite auf und beginnt mit der Arbeit. Wir haben keine Ahnung, was er genau tut oder welches Problem er diagnostiziert hat. Das Spanisch hier auf dem Land ist für uns nur sehr schwierig zu verstehen, da nützt auch die Tatsache nichts, dass es meine Muttersprache ist. Und so sitzen wir da, neben uns der Hahn, der im Minutentakt kräht – gnadenlos. Es macht uns fast wahnsinnig.
In der Nacht kühlt es nicht merklich ab. Wir schlafen mit offenen Türen, oder besser gesagt harren der Zeit, denn an Schlaf ist nicht zu denken, wenn man im Dunkeln halbnackt daliegt und ab und zu jemand am Van vorbeigeht. Auch wenn Hector uns versichert, dass es hier sicher ist.
Morgens um Punkt sieben Uhr schrecken wir dann doch auf, als es unter dem Bett zu poltern beginnt. Hector hat ohne Vorwarnung seine Arbeit wieder aufgenommen und schlägt nun mit einem seiner Werkzeuge auf irgend etwas am Van ein. Wir stehen auf und setzen uns wieder auf unsere Sitze vor dem Häuschen. Die Kinder machen sich auf zur Schule, ausser die Jüngste, die Älteste (mit dem Baby) und der Sohn, er muss Papa heute beim Flicken helfen. Wir bieten unseren Werkzeugkoffer an, aber Hector ignoriert ihn. Nur die Kinder finden den Koffer lustig und zweckentfremden ihn als Puzzle: alle Schraubenzieher raus und dann wieder am richtigen Ort im Schaumgummi verstauen. Und wir machen nicht viel, bloss vor uns hin schwitzen.
Am Nachmittag kommt unser Mechaniker unter dem Van hervor und streckt uns etwas hin: die Kupplungsscheibe. Der Belag ist völlig zerfetzt. Problem gefunden, hoffentlich. Hector meint, wir müssen in die Stadt fahren und eine neue Kupplungsscheibe auftreiben oder die alte neu beschichten lassen. Wir hinterfragen nichts und folgen Hector inzwischen blind und voller Vertrauen. Hector ruft ein Taxi – das einzige im Dorf. Zwar fahren viele Mofas oder Motorräder, aber Autos gibt es hier so gut wie keine, das Taxi ist deshalb rund um die Uhr in Betrieb. Es fährt vorbei, muss aber erst noch ein paar Leute abladen. Als Sandro und Hector eine halbe Stunde später dazusteigen, bekommt ersterer eine Geburtstagstorte auf den Schoss gelegt, die auch mit in die Stadt muss. La Dorada ist rund 30 Kilometer entfernt und zählt fast 100’000 Einwohner.
Nach dem gescheiterten Versuch, eine neue Kupplungsscheibe zu finden, fahren Hector und Sandro zu einer lokalen Garage, die Kupplungsscheiben repariert. Sandro erzählt mir später, dass die erste Amtshandlung der Männer war, ein Bier zusammen zu trinken. Während der eine sich dann an die Scheibe machte, wurden zwei andere auf den 2.-Weltkrieg-Dokumentarfilm aufmerksam, der gerade im Fernsehen lief und bieten folgende Unterhaltung:
Mechaniker A, rauchend: «Eh, Hitler ya murio?» (Du, ist Hitler eigentlich schon tot?)
Mechaniker B, auch rauchend: «Si, si.» (Ja.)
An diesem zweiten Abend finden auch wir, dass ein Bier keine schlechte Idee wäre. Wir bieten Hector eines an, aber er will zuerst die Arbeit fertig machen. Gute Arbeitsmoral, der Kerl, denken wir und langsam kehrt die Zuversicht zurück in unser Leben.
Eine Stunde später, Hector ist gerade fertig und lässt sich von seiner Frau etwas kochen, da fragt uns ein Mann beim Vorbeigehen: «El borracho esta en casa?» Ist der Besoffene daheim? Wir daraufhin erstaunt: «Was, Hector?» – «Ja! So nennen wir ihn.»
Am folgenden Tag haben wir den nervtötenden Gockel bereits ins Herz geschlossen und die Kinder trauen uns inzwischen auch über den Weg. Sie setzen sich in den Van, stellen 1000 Fragen, wollen wissen, wo das Meer ist, ob Wale böse sind, ob wir sehr arm sind, weil wir in einem Auto leben, wie die Berge so sind und wie kalt es dort ist, ob alle so komisch sprechen in unserem Land, warum ich als Frau kurze Haare habe und Sandro als Mann lange. Unser Respekt vor Hector steigt ins Unermessliche an diesem dritten Tag. Der Mann schraubt mit einer Handvoll Werkzeug und seinem kleinen Sohn jeden Tag von Sonnenaufgang um 7 Uhr bis Sonnenuntergang um 19 Uhr unermüdlich an unserem Auto herum und macht keinen Mucks.
Mit den letzten Sonnenstrahlen gibt uns Hector den Autoschlüssel und sagt, wir sollen es mal versuchen. Der zweite Gang geht rein, der dritte und auch der vierte. Wir sind nudelfertig und glücklich und gönnen uns für die dritte Nacht ein Zimmer beim Tankstellen-Hotel für umgerechnet zehn Franken. Und gefühlt die beste Dusche der gesamten Reise.
Beim Abschied sagt uns Hector, dass er extra Liebe in die Reparatur gesteckt hat. Für die gesamte Arbeit verlangt er 120 US-Dollar. Wir hätten ihm mit Freude auch 1000 gegeben.
Von: | Gabriella Hummel [[email protected]] |
Gesendet: | Mo 14.01.2019 16:40 |
An: | Redaktion [[email protected]] |
Betreff: | Kolumbien |
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