«Fütterung der Raubtiere»
Die gelben Plastikhocker, mit den dazugehörigen Tischchen sind derart klein, dass ich mir beim Hinsetzen die Knie am Tischrand stosse. Dies ist aber nicht etwa ungewöhnlich. Denn ich befinde mich in Vietnam. Und hier in der Hauptstadt Hanoi – sowie im ganzen Rest des Landes – kommt die Ausstattung eines jeden Strassencafés im Miniaturformat daher.
Es ist noch frühmorgens, als ich auf dem Minihocker vor dem Imbiss mit dem niedlichen Namen «Kitty Snack» kauere. Dessen Betreiber hat mir gestern erzählt, dass hier jeden Morgen vor Schulbeginn die Hölle los sei. Gegenüber der Schule gelegen, bringen viele Eltern ihre Kinder zum schnellen Frühstück vorbei, bevor diese in die Klasse entlassen werden. Also habe ich mich heute Morgen in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett gequält um dieses Spektakel einmal persönlich mitzuerleben. Die Hände zum Aufwärmen zwischen die Knie gepresst und den Blick auf das schmale Strässchen vor mir gerichtet, warte ich an diesem kühlen Dezembermorgen auf «die Fütterung der Raubtiere».
Und tatsächlich. Kurz vor sieben Uhr erweckt ein ohrenbetäubendes Hupkonzert das verschlafene Seitengässchen zum Leben. Aus beiden Richtungen preschen Motorroller auf den Imbiss zu. Unmittelbar vor meinem Tischchen kommt ein weisses Gefährt zu stehen. Die Lenkerin, eine junge Mutter in adrettem Arbeitskostüm, macht sich erst gar nicht die Mühe abzusteigen. Routiniert bellt sie die wohl allmorgendliche Bestellung in Richtung der Angestellten und hält einige Sekunden später bereits eine gefüllte Plastiktüte in der Hand. Eilig reicht sie diese dem Töchterchen hinter ihr. Vermutlich darf das Kind diese Mahlzeit im frischen Fahrtwind geniessen – angereichert mit einer Prise Abgas und dem Verkehrslärm als Begleitmusik. Mittlerweile hat das Gedränge vor dem Imbiss zugenommen. Die Mehrheit der Kinder wurde heute Morgen von ihren Eltern fürsorglich in dicke Daunenjacken und Wollmützen gepackt. Ganz im Gegensatz zu den Mamas und Papas selbst, deren nackte Füsse oftmals nur in einfachen Plastiklatschen stecken. Mich schauderts nur beim Hinsehen.
Fast alle der Hocker sind jetzt besetzt und auf den kleinen Tischchen häufen sich Schals, Schulranzen und Schulhefte, in die noch schnell die Hausaufgaben gekritzelt werden. Die laminierten Menükarten, die auf jedem Tisch bereit liegen, werden nicht beachtet. Ich realisiere, dass es sich hier um eine regelmässige Kundschaft handeln muss, die weiss, was sie will. Ich staune, wie selbstbewusst und selbstverständlich die Kleinen ihre Frühstückswünsche kundtun. Wobei es anscheinend auch normal ist, dass ein Grossteil der Eltern ihre Schützlinge vor dem «Kitty Snack» abliefert, ihnen Geldscheine zusteckt und sie dann ihrem eigenen Glück überlässt. Und im Kitty Snack jedem sein Glück gewährt – spätestens nach Erhalt des Frühstücktellers leuchtet auch das Gesicht des letzten Morgenmuffels freudig. Spaghetti Bolognese, Hot Dog und frittierte Hühnerschenkel mit süss-saurer Sauce sind der absolute Renner. Ein paar der Kinder sind aber auch brav der vietnamesischen Küche treu geblieben und erfreuen sich an «Nem chua ran», einem fermentierten und anschliessend frittierten Schweinefleisch-Snack.
Ganz hinten in der Ecke im Innern des Restaurants beobachte ich ein bleiches Mädchen mit grosser Brille, das konzentriert mit den Essstäbchen hantiert. Vorsichtig hebt sie ihre Frühlingsrolle vom Teller und taucht sie fachmännisch in das Schälchen mit der süsslichen Essigsauce, bevor sie genüsslich abbeisst und andächtig kaut. Ihr gegenüber sitzt ein pausbäckiger Junge, der im Eiltempo einen Teller Spaghetti verschlungen hat. Nun gönnt er sich zum Frühstücksnachtisch noch eine süsse Crêpe mit Schokoladensauce.
Draussen ist noch immer Hochbetrieb. Roller kommen und gehen, es wird gehupt, gelacht, bestellt, bezahlt und im Stehen aus der Tüte gegessen. Aus einem grossen geflochtenen Korb dampft es verführerisch, als ein Angestellter den Deckel hebt und mit blossen Händen hineingreift. Ohne eine Miene zu verziehen, gibt er fünf der siedend heissen, schneeballähnlichen Teigtaschen in eine Plastiktüte, die er einem gestresst dreinblickenden Vater hinstreckt. Dieser tippt mit einer Hand hektisch auf seinem Handy, die andere hält die Hand seines Sohnes, der noch etwas verschlafen in die Weltgeschichte schaut. Ungeduldig schüttelt er die Hand seines Sohnes ab, um an das Geld in der Jackentasche zu gelangen. Dem verwirrten Sohn drückt er unwirsch die Tüte mit den duftenden Dumplings in die Hand, bevor er ihn über die Strasse Richtung Schule schiebt.
Einige der Eltern nehmen sich aber auch die Zeit, um gemeinsam mit ihren Kindern zu frühstücken. Obwohl von einem gemeinsamen Frühstück nicht unbedingt die Rede sein kann, denn die Eltern schauen ihren Kindern lediglich beim Essen zu, ohne selbst etwas zu konsumieren. Mit angezogenen Knien und verschränkten Armen wirken sie etwas verloren auf den kleinen Schemeln inmitten der halbwüchsigen Gesellschaft. Sie selber werden sich womöglich lieber mit Phở – eine Suppe mit Reisnudeln, Rind- oder Hühnerfleisch, die traditionell zum Frühstück gegessen wird – verköstigen, das unweit des Kitty Snack an jeder Strassenecke serviert wird.
Nach einer guten Stunde ist der Ansturm vorbei und ich sitze wieder alleine im Imbiss, den Blick auf die Strasse gerichtet, deren Boden von zusammengeknüllten Servietten übersät ist. Ein Teil des Personals beginnt gerade mit dem Aufräumen, als der Betreiber des Ladens mit einem breiten Grinsen auf mich zukommt. «Na, habe ich zu viel versprochen? Heute war wieder einmal die Hölle los!» Ich nicke ihm bestätigend zu und fühle mich plötzlich total erschlagen, als hätte ICH heute den ganzen Ansturm bewältigen müssen. Müde stehe ich auf und will mich dankend verabschieden, als mich der Besitzer energisch zurück auf mein Stühlchen verweist. «Jetzt wird erst mal gefrühstückt, du bist eingeladen!», verkündet er in feierlichem Ton und schiebt mir die laminierte Menükarte zu. Etwas verloren schweift mein Blick zwischen Spaghetti, Hamburger und allerlei Frittiertem hin und her und ich denke mit Wehmut an die Mütter und Väter, die jetzt unweit des Kitty Snack auf einem Mini-Plastikhocker sitzen und mit vermutlich glückseligen Gesichtern Phở schlürfen.
Von: | Nadja Meister [[email protected]] |
Gesendet: | Do 4.01.2018 21:12 |
An: | Redaktion [[email protected]] |
Betreff: | Hanoi / Vietnam |
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