Vulkan Santa María:
Freiluftkino und Ritualberg
Um 4.30 Uhr quäle ich mich aus dem Bett und steige kurz darauf in den abgenutzten Peugeot, der im Stockfinstern vor meinem Hostel hält. Fast noch im Halbschlaf, geht es holpernd durch die Gassen der guatemaltekischen Hochlandstadt Quetzaltenango ins ein paar Kilometer entfernte Dorf Llanos del Pinal, auf etwa 2300 Metern Höhe.
Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich hier tue, als mein Bergführer Pedro und ich gegen 5 Uhr die Stirnlampen anknipsen und auf einem staubigen, ausgetretenen Pfad bergauf marschieren. Schemenhaft erkenne ich um uns herum hohe, struppige Grasbüschel. Furchterregend nah bellen Hunde ins Dunkel. Ich weiss nur, dass sich die Wanderung auf den 3770 Meter hohen Gipfel des Vulkans Santa María lohnen soll. Von dort habe man einen tollen Blick auf die Vulkankette, die sich vom Westen Guatemalas über den Lago Atitlán bis zur früheren Hauptstadt Antigua erstreckt. Noch dazu hat der Santa María einen kleinen Bruder, den Santiaguito, der noch aktiv ist. Von Zeit zu Zeit spuckt dieser dicke Aschewolken aus. Ich bin also sehr gespannt.
Doch vor die Belohnung sind natürlich Mühen gesetzt. Stück um Stück geht es auf dem steilen Weg durch dichten Wald nach oben. Manchmal ist die schwarze Vulkanerde, über die der Pfad läuft, bröckelig, an anderen Stellen hat sich eine glitschige Schlammschicht gebildet. Das Kraxeln ist anstrengend, ein wenig spüre ich auch die Höhe – aber ich fühle mich insgesamt ganz gut in Form. Schlimmer ist die Kälte, mit der ich im tropischen Mittelamerika gar nicht gerechnet habe: Die Temperaturen liegen um den Gefrierpunkt, meine Hände werden langsam zu Eisklumpen. Dafür entdecken wir etwas, was Pedro bisher noch nie gesehen hat: An einem Felsvorsprung hängen grosse Eiszapfen, an anderen Stellen stossen wir auf bizarre, stäbchenförmige Eiskristalle. «In den letzten Tagen gab es hier einen Kälteeinbruch», erzählt mein Begleiter bei einer Verschnaufpause. «Dabei sind auf einem Vulkan bei einem Sturm mehrere Leute umgekommen.»
Mich gruselt es ein bisschen und ich bin froh, als endlich die ersten Sonnenstrahlen zu uns durchdringen. Und bald bietet sich auch der erste atemberaubende Ausblick. Zwischen den knorrigen Ästen der Bäume hindurch, halb verdeckt von schnell vorbeiziehenden Nebelfetzen, schauen wir auf die Hochebene um Quetzaltenango, eingerahmt von kegelförmigen Bergspitzen. Die letzten paar Hundert Höhenmeter sind schnell überwunden – und wir haben Riesenglück, das Wetter ist perfekt. Selbst die dichte Wolkendecke, die in der Herrgottsfrühe noch über den Tälern hing, hat sich inzwischen aufgelöst.
Als wir den Gipfel erreichen, sind drei Stunden vergangen – und es vergehen noch einmal drei Stunden, bis wir ihn wieder verlassen werden. Denn hier oben gibt es so viel zu entdecken, dass ich mich gar nicht satt sehen kann. Da sind die hellblau schimmernden Bergrücken der Vulkane, die sich wie Höcker von Kamelen weit bis in die Ferne erstrecken. Im Westen der Tacaná und der 4220 Meter hohe Tajumulco, der höchste Gipfel Guatemalas. Im Osten der Kegel des San Pedro am Lago Atitlán, dahinter der Acatenango, der «Hausberg» Antiguas, und schliesslich der kleinere Vulkan Fuego – der als Markenzeichen stets eine Mini-Rauchwolke über sich trägt. Und da ist der Blick ins Tiefland der Pazifikküste, schwindelerregend tief, und ganz in der Ferne ist, als schmaler blauer Streifen, sogar der Pazifik zu erkennen. Schon allein wegen dieser Aussicht hat sich die Wanderung für mich gelohnt.
Aber Pedro lotst mich weiter, halb um das Gipfelplateau herum. Hier, auf der Südseite und 1200 Meter tiefer, liegt der zerklüftete Aschekegel des Santiaguito wie die Überreste eines riesigen Lagerfeuers. Im Moment steigt allerdings nur eine dünne Rauchwolke auf. «Aber er bricht etwa alle ein bis zwei Stunden aus», versichert mir Pedro. Also setzen wir uns wie in einem riesigen Freiluftkino ins Gras und warten auf die «Vorstellung».
Es vergeht eine halbe Stunde, dann fast eine Stunde. Trotz der Sonne ist es hier oben immer noch kalt. Schliesslich denke ich, dass der Santiaguito wohl heute einen schlechten Tag hat und gar nichts ausspucken wird. Doch genau in dem Moment, als wir aufbrechen wollen, passiert es – es rumpelt und grummelt, dann steigt eine riesige, dunkelgraue Aschewolke aus dem Krater auf. Zum Glück ist sie weit weg und der Wind weht in die andere Richtung, denn diese Wolke aus giftigen Dämpfen möchte ich nicht abbekommen. Dafür gibt sie ein fantastisches Fotosujet ab.
Jetzt haben wir aber wirklich alles gesehen, denke ich. Doch falsch gedacht: Während wir vorher fast alleine hier oben waren, sind inzwischen etliche Mayas zum Gipfel aufgestiegen. Für sie ist der Santa María ein heiliger Berg und ein besonders geeigneter Ort, um mit den Göttern Kontakt aufzunehmen. Denn obwohl viele Guatemalteken Christen sind, haben sie gleichzeitig ihren ursprünglichen Mayaglauben und die jahrhundertealten Rituale bewahrt.
In einer Ecke vor ein paar Felsblöcken, um die grosse Blumensträusse aufgetürmt sind, beobachte ich mehrere Männer, die auf dem Boden knien, leise vor sich hin murmeln und sich immer wieder auf den Boden werfen. Einer von ihnen schreit so laut und klagend, dass ich denke, dass er etwas ziemlich Schlimmes erlebt haben muss.
Nur ein Stück weiter entdecken wir eine Mayafamilie, die ganze Kisten und volle Säcke mit zum Gipfel geschleppt hat. Nun sind die fünf Frauen, die bunte Röcke und Kopftücher tragen, die zwei Männer und zwei Jungs mit Wollmützen damit beschäftigt, alles sorgfältig in einem Kreis aufzuschichten. Fasziniert schaue ich zu, wie sie zwischen den Felsen zunächst getrocknete Laubbälle auslegen. Darauf kommen bündelweise Kerzen in allen Farben, drumherum werden bunt bedruckte Ölflaschen und weisse Blumen gelegt. Dann kniet sich der jüngere der beiden Männer auf den Boden, senkt den Kopf und beginnt mit gedämpfter Stimme, Gebete zu sprechen. Auf dem Kopf trägt er ein rotes Tuch, das ihn vor bösen Geistern schützen soll. Alle anderen sitzen andächtig im Kreis und scheinen stumm ihre eigenen Gebete zu sprechen.
Pedro, der selbst aus dem Hochland stammt, beobachtet das Ganze genauso interessiert wie ich. «Ganz am Anfang wird meist ein Kreis aus Zucker gestreut», beginnt er flüsternd zu erklären. «Der Kreis ist das Symbol für das Universum, der Zucker steht für ‹das Leben versüssen›. Auch die Farben der Kerzen haben eine Bedeutung: Rot steht für das Leben, grün für die Erde, gelb für unerfüllte Wünsche.»
Dann geht es auf einmal lebhafter zu: Der Vater zündet den Berg mit den Opfergaben an, kippt aus einer Flasche mehrmals Schnaps darüber. Irgendwer entzündet neben der Feuerstelle einen Stapel Knallkörper, die ohrenbetäubend explodieren. Schliesslich folgt der – für mich grausame – Höhepunkt des Rituals. Eine der Frauen zieht aus einem Sack – der sich vorher schon verdächtig bewegt hat – ein Huhn hervor. Der Vater nimmt einen Schluck Schnaps, giesst dann dem Huhn einen Schluck in die Kehle. Anschliessend wird das so betäubte Huhn mit einem schnellen Messerschlag geköpft. Das Blut rinnt zu Boden, der Kopf landet im Feuer und verschmort in Sekunden.
«Das Feuer symbolisiert die Verbindung mit dem Himmel und den Göttern», flüstert Pedro mir zu. «Und der Höhepunkt des Rituals ist es, den Göttern ein Tier zu opfern.» Okay, für die Mayas mag das Ganze eine besondere Bedeutung haben – ich finde es allerdings so brutal, dass ich gar nicht mehr hinschauen kann.
Wir müssen uns sowieso langsam auf den Rückweg machen. Der wird fast genauso interessant wie die Erlebnisse auf dem Gipfel. Denn Pedro, der vorher mit der Familie ein paar Worte auf Quiché gewechselt hat, beginnt zu erzählen. «Sie sind extra aus Santa Cruz del Quiché gekommen, etwa drei Stunden von hier entfernt. Mit dem Ritual wollten sich dafür bedanken, dass sie vor kurzem ein Haus kaufen konnten. Und dafür, dass die ganze Familie zusammen ist.»
Es stellt sich heraus, dass Pedros Vater früher selber als Maya-Priester tätig war. Gespannt höre ich zu, wie er von seiner Kindheit im Hochland berichtet. «Eigentlich war mein Vater Bauer, und meine Mutter hat als Händlerin auf dem Markt gearbeitet», erzählt er. «Es war nicht leicht für sie, die Familie zu ernähren. Denn insgesamt waren wir neun Brüder und drei Schwestern.» Er selbst musste nachmittags auf dem Feld mithelfen, erst abends war Zeit für die Hausaufgaben. «Zum Glück habe ich den Beruf als Bergführer gefunden», meint er. «So habe ich jetzt ein gutes Einkommen. Und ich mag die Berge: Die Ruhe, die Weite, die Natur.» Da kann ich ihm nur zustimmen. Als wir endlich unten an der Strasse ankommen, bin ich zwar erschöpft, aber: Dieser Ausflug in die Berge Guatemalas war einfach einzigartig!
Von: | Christine Amrhein [[email protected]] |
Gesendet: | Fr 07.08.2017 15:30 |
An: | Redaktion [[email protected]] |
Betreff: | Guatemala |
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