Surrealer Bergrausch
An der «Fuji Subaru Line 5th Station» werde ich gleich zum Aufstieg auf den berühmtesten und mit 3776 Metern höchsten Berg Japans starten. Mit zahlreichen Shinto-Schreinen übersät, gilt er als der wichtigste unter den drei heiligen Bergen des Landes. Die Wanderer, die sich in der kurzen Saison zwischen Anfang Juli und Mitte September auf den Gipfel hocharbeiten, haben jedoch längst nicht alle Pilgermotive. «Wir können den Fuji nun von unserer Bucket-List streichen», erzählt mir eine Amerikanerin aus Philadelphia, die sich im trubeligen Schnellrestaurant am Bahnhof an einer Nudelsuppe wärmt. Glücklich oder gar euphorisiert wirkt sie allerdings nicht, eher müde und abgekämpft. Mit ihrem Mann und ihren drei Jungs sei sie gerade zurück vom Gipfel, es sei einiges schiefgelaufen. Nicht genug Bargeld dabei und keine Reservierung für die Übernachtung in einer der ausgebuchten Berghütten. Zurück am Ausgangspunkt schmerzen nun ihre Knie. An meiner Motivation kann diese Aufzählung nicht kratzen.
Der Fuji ist keine Bergsteigerherausforderung, sondern auch von Nichtbergsteigern wie mir ohne grössere Schwierigkeiten zu bezwingen. Ein leichter Nachmittagsspaziergang ist der bestens ausgeschilderte Aufstieg aber trotzdem nicht. Denn auch wenn die Wege am Yoshida-Trail gerade zu Beginn recht breit sind, ist das Geröll teilweise sehr rutschig. Der Pfad wird immer steiler und felsiger, sodass ich auf kurzen Abschnitten auf allen Vieren kraxeln muss. Der Yoshida-Trail an der Nordseite ist der kürzeste und der mit Abstand beliebteste Weg. Mehr als 170 000 Fuji-Pilger wanderten im vergangenen Jahr hier hoch – fast doppelt so viele wie auf den anderen drei Wegen zusammen.
Auch heute, an einem sonnigen Julitag, ist der Andrang gross: Einzelwanderer, Gruppen, Familien zum Teil mit kleinen Kindern. Japaner und Menschen aus der ganzen Welt. Bei manchen frage ich mich, ob das Fuji-Vorhaben wirklich eine gute Idee war, nicht alle sehen sehr fit aus. Die Jungs und Mädchen, die durch ihre grellfarbigen Mützen ihren Schulklassen zugeordnet werden können, sind hingegen voller Energie. Die Luft, durch die immer wieder dicke Nebelbänder ziehen, wird immer dünner – und die Preise für Snacks an den Kiosken werden höher. Und auf den original Fuji-Wanderstöcken landen immer mehr Stempel, die man sich als Beweis an den einzelnen Stationen einbrennen lassen kann.
Was mich am Vulkan fasziniert, ist seine klare, symmetrische Kegelform – zumindest beim Anblick aus der Ferne. In der Kunst und in der Fotografie ist er daher ein beliebtes Motiv, das einem überall in Japan begegnet. Beim Aufstieg stösst man oberhalb der Waldgrenze jedoch auf eine eigenwillige Spacelandschaft: karg, geröllig, fast schon abstrakt. Der Fuji, der es vor ein paar Jahren auf die Liste des Weltkulturerbes geschafft hat, ist schliesslich ein Vulkan. Der bislang letzte Ausbruch ereignete sich 1707. Heute gilt er zwar noch als aktiv, das Risiko eines Ausbruchs wird aber als sehr gering eingeschätzt.
Die Massen auf diesem schlummernden Koloss haben alle dasselbe Ziel: zum Sonnenaufgang oben zu sein. Manche wandern den achtstündigen Aufstieg durch und laufen am Abend los, in die Nacht hinein. Ich gehöre zu denen, die sich tagsüber möglichst weit hinaufarbeiten wollen, um in einer der Hütten am Berg zu übernachten. Das Fujisan-Hotel habe ich ausgewählt, weil es dem Gipfel am nächsten liegt. Beim Fujisan von einem Hotel zu sprechen, ist allerdings reichlich irreführend. Eigentlich handelt es sich um einen grossen Speise- und Schlafsaal für 160 Personen. Weil sich schon vor 21 Uhr alle schlafen legen, ziehe auch ich mich aufs Pritschenlager zurück, das ich mir mit sieben anderen teilen muss. 50 Zentimeter, mehr Platz gibt es nicht pro Person. Umdrehen geht da nur im Kollektiv. Ich versuche zu dösen, aber an richtiges Einschlafen ist nicht zu denken. Mich plagen leichte Höhenkopfschmerzen. Die Enge, die dicke Luft und das Schnarchorchester tragen ihr Übriges dazu bei.
Folglich gehe ich schon früh wieder raus. Der Blick auf die Aufstiegsroute unterhalb der Hütte zeigt eines der schönsten Bilder meiner Fuji-Besteigung überhaupt. Die unzähligen Wanderer bilden mit ihren Stirnlampen eine illuminierte Perlenkette, die sich in Schlangenlinien über den Vulkan zieht. Ich reihe mich selber ein, um im Entenmarsch und im Schneckentempo mitzutrotten. Das Licht meiner Stirnlampe fällt immer wieder auf Schüler aus der Gruppe mit den roten Mützen. Sie sitzen am Wegrand. Die ausgelassene Entschlossenheit, mit der sie tags zuvor losgezogen sind, ist verschwunden. Jetzt müssen sie getröstet werden, weil sie fast zu erschöpft sind, um weiterzugehen. Auch mir und vielen anderen stecken die Anstrengung, der Schlafmangel und die dünne Luft merklich in den Knochen – nicht zuletzt deshalb ziehen sich die letzten paar Hundert Meter sehr in die Länge.
Das Ziel der buddhistischen Mönche, die nun vor mir wandern, liegt ebenfalls auf exakt 3776 Metern Höhe. Während ich mit meiner Outdoorausrüstung als greller Punkt aus dem vulkanischen Landschaftsgrau heraussteche, tragen sie traditionelle Gewänder. Erst bei genauerem Hinsehen fallen mir im Lichtkegel meiner Lampe ihre weissen Stiefel auf, die zwar wie japanische Tabi aussehen, also diese Socken, die den grossen Zeh von den restlichen vier trennen. Doch irgendetwas ist anders. Genau: Sie haben eine komfortable Air-Sohle darunter. Sich unterwegs Blasen einzulaufen, wäre bei ihrem Vorhaben schlecht gewesen. Ihre Pilgertour startete vor fünf Tagen in Tokyo. Jetzt, nach über 100 Kilometern, sind sie im Endspurt auf den Gipfel des heiligen Berges.
Irgendwann ist es geschafft: Endlich trete ich durch das Tor des Gipfelschreins und schaue in viele müde, aber glückliche Gesichter. Schon bald geht die Sonne auf, und dafür bringen sich die Ankömmlinge mit Fotoapparaten in Stellung. Kein Wunder, dass fast alle Wanderer den Sonnenaufgang erwischen wollen. Der Ausblick auf die Ebene wäre ohne das hereinbrechende Sonnenlicht eher unspektakulär. Es erzeugt zwischen Wolkenstreifen ein rot-blau-goldenes Farbspiel. Das Publikum staunt andächtig und knipst – wie ich – unzählige Fotos.
Vor dem Abstieg will ich noch einige Dinge erledigen: Gipfeltrophäe kaufen. Gipfelpostkarte im kleinen Postamt abschicken. Nudelsuppe essen. Bis zum allerhöchsten Punkt wandern, der auf der anderen Seite des Kraterrandes bei einer Wetterstation liegt.
Nach ein paar Stunden beginne ich den Abstieg. Diesmal jedoch über eine andere Route – über den Gotemba-Trail, der mit 16 Kilometern zwar deutlich länger, aber längst nicht so steil ist. Anders als auf dem Yoshida-Trail sind hier kaum Wanderer unterwegs. Teilweise ist der Nebel so dicht, dass die Landschaft von einem weissen Nichts verschluckt wird. Die Piste entpuppt sich als ein unerwartet grosser Spass. Ich sinke beim Laufen ganz weich in die Asche und entwickle mit grossen Schritten ordentlich Tempo. Innerhalb von drei Stunden bin ich unten. Die frischen Erinnerungen an diesen 24-Stunden-Wanderrausch scheinen fast unreal, wäre da nicht der bereits einsetzende Muskelkater.
Von: | Sascha Rettig [[email protected]] |
Gesendet: | Do 08.02.2016 14:55 |
An: | Redaktion [[email protected]] |
Betreff: | Japan |
Anhänge:
Erhalte E-Mails aus…
Abonniere unsere E-Mails aus aller Welt und erhalte regelmässig Lesefutter gegen akuten Reisehunger. Diesen Service kannst du jederzeit abbestellen.