Im Rollstuhl durch Burma
Als Andreas Pröve 1985 vier Jahre nach einem lebensverändernden Unfall im Rollstuhl in Asien unterwegs war, wuchs ihm von all den bereisten Ländern keines so sehr ans Herz wie Burma. Er verpasste damals absichtlich den Flug Rangoon–Bangkok, um die restriktive Sieben-Tage- Aufenthaltsgenehmigung der Militärregierung auszuhebeln – für zwei zusätzliche Tage. Danach wollte er nie wieder nach Burma reisen. Kein zweiter Besuch sollte seine Erinnerungen an die «Perle Südostasiens» trüben.
Ausgabe: Nr. 120 Text & Fotos: Andreas Pröve
Immerhin, 30 Jahre bin ich der selbstauferlegten Entsagung treu geblieben. Vorletztes Jahr aber gab es kein Halten mehr, zu häufig schwärmten meine Vortragsbesucher von ihrer letzten Reise durch Burma, das heute Myanmar heisst, ein Land, das etwas ganz Besonderes sei. Ich verstand nur zu gut, was sie meinten. Und so ging es an die Planung. Ich wusste, dass Hotels noch immer eine Ausländerlizenz benötigen, um Touristen beherbergen zu dürfen, und es Privatpersonen nicht erlaubt ist, Fremden Obdach zu gewähren. Und viele Gegenden sind aufgrund ethnischer Konflikte touristisches Sperrgebiet. An Militärcheckpoints müssen Individualreisende dokumentieren, wo sie zuletzt übernachtet haben.
Da ich üblicherweise per Handbike unterwegs bin, erschwerte mir die Tatsache, dass die Distanz zwischen zwei «legalen» Unterkünften weit über hundert Kilometer beträgt, die Reiseplanung erheblich: Das wäre für mich an einem Tag nicht zu schaffen. Was also lag näher, als meinem Rollstuhl mehr Speed zu geben und ihn mit einer zusätzlichen Kraft zu versehen? Denn ich will Myanmar individuell bereisen. Losfahren, ohne zu wissen, wo und wie der Tag endet, mich dem Land aussetzen und ihm mein Herz öffnen, verletzlich, wie ich bin, mit allen Konsequenzen.
Der Triebling
Vieles ist in Myanmar Mangelware. Strom gehört auch dazu. Ein Elektroantrieb war also keine Option. Ein Verbrennungsmotor musste her. Einer, der mich schiebt, der Schotter- und Sandwege schafft, mit dem ich über den Strand pflügen kann, der aber nicht gleich einen Panzer aus meinem Rolli macht. Ein Antrieb, der mindestens 35 km/h auf die Strasse bringt, 200 Kilometer ohne tanken garantiert und sich blitzschnell abnehmen, zusammenfalten und als Gepäck aufgeben lässt.
Die Suche nach der eierlegenden Wollmilchsau ging los. Schnell merkte ich, dass der Markt so etwas nicht hergab, also legte ich selbst Hand an und kramte mein Wissen als Maschinenbaukonstrukteur hervor. Was nach drei Monaten Basteln, Schrauben und Schweis¬sen rund um das Herz meines selbst erfundenen Trieblings – des kleinsten Viertaktmotors von Honda – meine Werkstatt verliess, vermittelte mir ein berauschendes Gefühl von Freiheit, das ich seit meiner letzten Motorradfahrt vor 35 Jahren so nie wieder erlebt hatte. Ich wurde zum Highway-Junkie… Und weil diese Motoren auch in Myanmar überall im Einsatz sind, musste ich mir um Ersatzteile keine Sorgen machen. Nun brauchte ich wegen des erhöhten Tempos noch eine effektive Federung am Rollstuhl, damit ich mir bei der Rüttelei nicht nochmals das Rückgrat brach. Glück im Unglück: Unsere Waschmaschine ging kaputt, und es stellte sich heraus, dass die kleinen, starken Gasdruckdämpfer, die die Trommel nach allen Seiten stützen, exakt passten. Der Rollstuhlsitz, darin aufgehängt, glitt über jede Piste wie ein Luftkissenboot hinweg – perfekt. Mit der Deklaration «nötiges medizinisches Hilfsmittel» durfte mein Kraftpaket nach einigen Diskussionen dann auch mit ins Flugzeug.
Land im Aufbruch
Wer heute in der ehemaligen Hauptstadt Yangon zur falschen Zeit landet, könnte sein Hotel zu Fuss schneller erreichen als mit dem Taxi. Zum Glück sind Verkehrsstaus im Rest des Landes ein Fremdwort. Den vier Stunden dauernden Stop-and-go-Verkehr nutze ich, um den Taxifahrer zu löchern. Ein redseliger, humorvoller Burmese, der meine Fragen geduldig und ausschweifend beantwortet. Schon beim Einsteigen werde ich mit dem burmesischen Pragmatismus konfrontiert. Denn mein Taxifahrer glaubt nicht an die Wirkung eines Sicherheitsgurtes – er fühle sich damit wie gefesselt. Weil es jedoch eine Anschnallpflicht gibt, hat er sein Hemd mit einem schwarzen Balkenaufkleber versehen, um die Polizei zu täuschen. Fotografieren soll ich ihn damit aber lieber nicht. Damit sind die Probleme leider nicht vom Tisch. Sein Taxi piept nämlich nervtötend, wenn ein Insasse nicht angeschnallt ist. Um dieses Problem zu beheben, hat er sich einfach eine lose Schlosszunge gekauft, die er dann ins Gurtschloss steckt. Endlich ist Ruhe.
Schnell stelle ich fest, dass sich in Burma vieles verändert hat. Selbst der Name und die Hauptstadt sind nicht mehr dieselben. Das Land nennt sich nun Myanmar mit einer künstlichen Grossstadt namens Naypyidaw. Auf den Strassen haben japanische Automobile die typischen Rikschas mit Seitenwagen verdrängt. In nahezu jedem Hotel bekommt man mit dem Zimmerschlüssel einen WLAN-Code, um sich mit dem Rest der Welt zu vernetzen. Nur die Menschen mit ihrem liebenswerten Naturell sind die gleichen geblieben. Sie verbreiten dieses positive Grundrauschen in der Gesellschaft, das uns Europäern häufig abhandengekommen ist. Das burmesische Lächeln, das jedem Griesgram die Sonne ins Gesicht zaubert, dem noch nicht kommerzielle Motive zugrunde liegen und das den Burmesen wohl in den Genen steckt – dieses Lächeln haben sie sich auch durch die langjährige Militärdiktatur nicht nehmen lassen.
Dass aber mit einem freundlichen Gesicht oft bitterste Not weggelächelt wird, ist ebenso offensichtlich. Für die Burmesen war das Leben unter der Knute der Junta nie einfach. Auch wenn sich die Machtverhältnisse seit den Wahlen verschoben haben, das Militär kontrolliert dennoch alles, was im Land geschieht.
Auch dieses Mal besuche ich das Wahrzeichen Myanmars. Was jeden Besucher bewegt, der heute vor diesem prächtigen Bau steht, und auch mir zu Herzen geht, fasste 1889 der britische Schriftsteller Rudyard Kipling treffend in Worte: «Und dann erhob sich ein goldenes Mysterium am Horizont, ein leuchtendes Wunder, das in der Sonne erstrahlte. Das ist die Shwedagon, dies ist Burma, ein Land, das anders ist als alle, die du kennst.» Die goldglänzende Pagode ist mit einer sechzig Tonnen schweren Goldschicht bedeckt, die alle paar Jahre erneuert wird. Tausende von Edelsteinen und ein 72 Karat schwerer Diamant schmücken ihre Spitze. Acht Haare Buddhas befinden sich in dem Heiligtum, eingemauert für alle Zeiten. Nicht alles, was in Myanmar glänzt, ist echtes Gold. Handelt es sich allerdings um Orte besonderer Spiritualität, wird tief in die Tasche gegriffen. Die wichtigsten Heiligtümer des Landes mit wertvollem Blattgold zu bekleben, ist ein wirkungsvoller Beitrag, das eigene Karma zu polieren, sich vor den alltäglichen Unbilden zu schützen und allerlei Krankheiten fernzuhalten.
Die Shwedagon-Pagode zu besuchen, ist für Rollifahrer eine wahre Freude. Wie bei vielen Pagoden im Land führen auch hier Aufzüge auf die marmorne Plattform. Als gäbe es in einem der ärmsten Länder der Welt nichts Selbstverständlicheres, als viel Geld zu investieren, um auch Gehbehinderten die Religionsausübung zu ermöglichen. Rollstuhlreifen können dem sakralen Bauwerk nichts anhaben, Schuhe dagegen bleiben natürlich draussen.
Gleichzeitig klaffen riesige Löcher zwischen den Gehwegplatten der Stadt. Nicht von der Kanalisation verschluckt zu werden, kostet in Yangon viel Aufmerksamkeit. Rampen und hoch moderne Aufzüge an heiligen Stätten einerseits, und andernorts unüberwindliche Barrieren andererseits, sind hier kein Widerspruch. Das Land ist im Aufbruch, und Hindernisse kompensiert die Bevölkerung mit Hilfsbereitschaft. Diese beherrschen sie meisterlich, ohne Berührungsängste. Es gibt kein Mitleid und keine teilnahmsvollen Blicke. Stattdessen Jubel aus den Kneipen bei meinem Anblick, wenn ich vorüberfahre. Wenn Myanmar auch nicht ganz barrierefrei ist, behindertenfreundlich ist sein Volk mit Sicherheit.
Aufbruch
Es juckt mich in den Fingern. Ich will hier raus, will ans Meer. Seit zwei Wochen düse ich durch Yangon, kenne jeden Winkel, weiss, an welchen Kreuzungen immer Kontrollposten stehen und wo sie nie zu sehen sind. Motorisierte Zweiräder sind nämlich auf Yangons Strassen verboten. Und ob mein Self-Made-Antrieb hier erlaubt ist, weiss ich nicht, also meide ich die Konfrontation. Ich schleiche mich zur schlimmsten Rushhour Richtung Westen aus der Stadt. Mein Rolli ist 60 Zentimeter breit, eine Lücke von 65 Zentimetern zwischen den Autos, die im Stau stehen, reicht, um dazwischen hindurchzudüsen. Kein Polizeiauto kann mir da folgen. Schon nach zwei Stunden lasse ich die letzten Industriegebiete von Yangon hinter mir. Was ich die ganze Zeit vermutet hatte, bestätigt sich: Yangon besitzt die besten Strassen im Land. Worauf ich ab jetzt fahre, ist eine schlecht geflickte Piste, auf der sich meine zusätzliche Federung auszahlt. Bei jedem Schlagloch hüpft der Triebling hinter mir her und heult kurz zur maximalen Drehzahl auf. Lediglich im Dunstkreis von militärischen Einrichtungen sind die Strassen erstklassig. Die nehme ich dann genüsslich mit Vollgas.
Nach vier Stunden erreiche ich Pathein, die Stadt, die berühmt ist für ihre Schirmmacher. Zu Zeiten, als das Land noch von Königen regiert wurde, dienten unter anderem Sonnenschirme als Symbol der Macht. Danach trug sie jeder, der etwas auf sich hielt. Heute sieht man noch häufig Mönche mit den bunten, aus Bambusstäben, Baumwolle und Seide kunstvoll gefertigten Schirmen. Auch wenn ich aus Platzgründen keinen Schirm kaufen kann, wird mir in einer Werkstatt bereitwillig jeder Produk-tionsschritt vorgeführt. Erst danach ist mir klar, dass der Preis von mehreren 100 Euro für ein gros¬ses Exemplar durchaus berechtigt ist.
Zwei weitere Stunden durch ruhige, hügelige Landschaft, und ich bin am Meer, in Ngwe Saung. Hier gibt es eine schlechte und eine gute Nachricht: Keines der Bungalowdörfer besitzt Unterkünfte ohne Stufen. Aber am Wochenende einen Handwerker zu finden, der eine Rampe baut, ist überhaupt kein Problem. Und so bewohne ich einen bald barrierefreien Bungalow unter Palmen direkt am Strand, verpasse meinem Motor einen Ölwechsel und bereite mich auf die kommenden Reisetage vor.
Über den Autor
Andreas Pröve, Buchautor und Globetrotter aus Leidenschaft, mit einem Hang zum Minimalismus, reiste inzwischen vier Mal durch das ehemalige Burma und entdeckte ein erstaunlich rollstuhlfreundliches Land.
Wie geht die Geschichte weiter?
Ein kaputtes Kugellager zwingt den Autor beinahe zum Aufgeben und das Wasserfest lässt seine Fotoleidenschaft sprichwörtlich ins Wasser fallen, doch Myanmar verzaubert ihn noch mehr als sonst – und das aus gutem Grund.