20 Minuten für die Seele

 

Der Eintritt zur coolsten Touristenattraktion Istanbuls kostet 90 Cent. Man zahlt, nimmt Platz und lehnt sich zurück. Die Tour dauert 20 Minuten und führt vorbei an den Wahrzeichen der türkischen Millionenmetropole: Hagia Sophia, Galataturm, Blaue Moschee, Leanderturm. Und wer Glück hat, kann sogar Delfine sehen. 20 Minuten, die kein roter Doppeldeckerbus bietet. Sondern nur die Fähren der Stadt.

Fast 900 Verbindungen bietet allein die städtische Fährgesellschaft an – und das jeden Tag. Eine der Routen führt von Asien nach Europa. Ich bin sie unzählige Male gefahren, als ich letztes Jahr im Stadtteil Kadiköy gewohnt habe, im asiatischen Teil Istanbuls. Aber einige Freunde leben in Karaköy, auf dem europäischen Kontinent, wo auch einige meiner Lieblingsrestaurants sind. Um dorthin zu kommen, hätte ich das Auto, den Bus oder den Zug nehmen können – aber ich habe mich immer für die Fähre entschieden.

Asien und Europa: Der Bosporus trennt die Kontinente. Die weltberühmte Meerenge verbindet das Schwarze Meer mit dem Marmarameer, sie ist rund 30 Kilometer lang und an der engsten Stelle 700 Meter breit. Zwischen den mehr als 50 Anlegestellen verkehren nicht nur die Fähren der Istanbuler Fährgesellschaft Sehir Hatlari, auch private Anbieter und schnelle Wassertaxis sind auf dem Bosporus unterwegs. Der Verkehrsbetrieb Sehir Hatlari besteht seit über 170 Jahren, die Fähren gehören in Istanbul zur Stadtgeschichte.

Wer die Metropole schon einmal besucht hat, wird verstehen, warum ich mich immer für das Schiff entscheide: Istanbul ist einer der chaotischsten Orte der Welt, eine Stadt, die einfach nicht zur Ruhe kommt. Staus, schlechte Luft und die Sommerhitze von Juni bis Oktober zerren an den Nerven. Über 20 Millionen Menschen leben hier. Die Stadt ist ein in Beton gegossener Wahnsinn, in dem es eine Oase der Ruhe gibt, die im Alltag nicht oft vorkommt: die Fähre.

Die 20-minütige Fahrt von Kadiköy nach Karaköy ist ein Erlebnis für alle Sinne. Schon beim Betreten des Schiffes schlägt einem der schwere Geruch des Diesels entgegen. Viele Fähren der Istanbuler Flotte sind 50 Jahre alt, das älteste Schiff wurde 1952 in Italien gebaut und ist seit sieben Jahrzehnten im Einsatz. Kein Wunder, dass es oft nach Diesel oder Öl riecht und manche Kähne verrostet sind.

Der Geruch verfliegt jedoch schnell, wenn das Schiff an Fahrt aufnimmt – vor allem auf dem Freideck. In den Sommermonaten weht den Passagieren eine frische Brise um die Ohren. Und wer sich über die Lippen leckt, kann das Salz des Meeres schmecken.

Nach dem Ablegen in Kadiköy steuert die Fähre auf die europäische Seite der Stadt zu. Bald rollen die Wellen aus dem Marmarameer an, bei starkem Seegang schlagen sie gegen die Bordwand, die Gischt spritzt nach oben. Die erfahrenen Kapitäne stört das nicht: Sie trinken entspannt Tee und rauchen Zigaretten.

Doch bisweilen braucht der Kapitän volle Konzentration. Denn er ist nicht allein auf dem Bosporus: Riesige Frachter, Tanker und auch Kriegsschiffe sind unterwegs. Die haben nach internationalem Recht immer Vorfahrt. Dazu kommen Schlepper, Ausflügler und Fischer. Sie alle muss der Kapitän im Auge behalten.

Und wenn man sie am wenigsten erwartet, springen sie plötzlich aus dem Wasser: die Delfine. Drei verschiedene Arten soll es im Bosporus geben. Während der Lockdowns in der Corona-Pandemie wurden die Säugetiere häufiger gesichtet – jetzt braucht man wieder mehr Glück und gute Augen, um sie zu entdecken.

So viel Glück hatte ich nur einmal: Kurz nachdem ich nach Istanbul gezogen war, reckten sich auf der Fähre plötzlich alle Köpfe nach vorne. Aufregung machte sich breit. Und da, 50 Meter vor unserem Bug, sprangen zwei Delphine mit ihren markanten Rückenflossen aus dem Wasser – direkt vor der Silhouette der historischen Altstadt. Links die Hagia Sofia und die Blaue Moschee, rechts der Galataturm. Eine unglaubliche Szene.

Am schönsten ist der Blick auf den europäischen Teil aber bei Sonnenuntergang. Langsam senkt sich die Sonne über die Minarette der Moscheen, die letzten Strahlen spiegeln sich auf dem Wasser, bis die Sonne ganz verschwunden ist. Wie überwältigend muss dieser Anblick für die Seefahrer vor einigen Jahrhunderten gewesen sein, als es die neuen Wolkenkratzer noch nicht gab.

Dabei ist die Blütezeit des Fährverkehrs am Bosporus noch gar nicht so lange her: Bis vor gut 50 Jahren waren Schiffe die einzige Möglichkeit, zwischen dem asiatischen und dem europäischen Teil der Stadt zu pendeln. Erst 1973 wurde die erste Bosporusbrücke für den Autoverkehr eröffnet. Inzwischen gibt es drei Brücken und zwei Tunnel, durch den einen fährt die Stadtbahn. Trotz der neuen Technologien wählen jährlich immer noch 40 Millionen Passagiere die Schiffe der Istanbuler Fährgesellschaft – das sind im Schnitt fast 110 000 Fahrgäste pro Tag.

Darunter sind viele Touristen, die minutenlang für das perfekte Instagram-Foto posieren. Oder Verliebte, die eng umschlungen auf den Bänken sitzen – die Sehenswürdigkeiten der Stadt spielen für sie nur eine Nebenrolle. Dann gibt es die Profis, die noch an Land Simit gekauft haben, den türkischen Sesamkringel, um ihn an die Möwen zu verfüttern. Sie werfen ein Stück in die Luft und die Möwen fangen es geschickt mit ihren Schnäbeln. Vor einigen Jahren war auch Boji regelmässig an Bord, ein Strassenhund, der meist zwischen Asien und Europa pendelte. Er wurde zum Instagram-Star mit über 90 000 Followern. Irgendwann wurde er mit einem GPS-Sender ausgestattet und seine Fans konnten verfolgen, wo sich der herrenlose Hund gerade herumtrieb.

Andere Passagiere blicken verträumt aufs Meer. Die Einheimischen zum Beispiel, sie haben viel Grund zur Melancholie. Die galoppierende Inflation, die ungewisse politische Zukunft des Landes, die sich rasant verändernde Stadt. Eine Fähre zu besteigen, bedeutet immer auch Aufbruch – zwischen Asien und Europa, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Auf dem Bosporus ist man irgendwo dazwischen.

Doch die Teeverkäufer an Bord holt Tagträumer wie mich zurück auf die harte Holzbank der Fähre: «Tee, es gibt Tee», rufen sie auf Türkisch über das Deck. Mit Tabletts gehen sie durch die Reihen und bieten frisch gepressten Orangensaft, belegte Toastscheiben und Tee an – auch bei rauer See. Ein Gläschen türkischer Cay kostet weniger als ein Fährticket, da kann kaum jemand widerstehen. Das Klirren der Teelöffel, die beim Umrühren gegen die Gläser schlagen, gehört zum Sound der Fähren wie das Schiffshorn beim Ablegen.

Während der Teeverkäufer die leeren Gläser einsammelt, erreicht die Fähre die Anlegestelle in Karaköy. Jetzt heisst es für die Besatzung: Beeilung. Taue auswerfen und die Gangway zum Pier ausfahren. Die Menschen Istanbuls sind nicht die geduldigsten und drängen nach draussen. Sie verschwinden in den Strassen und Gassen Istanbuls – und den Millionen von Einwohnern.

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