Tal der Elefantenrücken

 

Verdammter Gockel! Draussen herrscht noch nicht ein Hauch von Dämmerung, und schon kräht er sich die Seele aus dem Leib. Ein stimmgewaltiger Kollege antwortet, dann ein Hund. Weitere Bell-Arien gesellen sich zum Chor, der nach und nach zum animalischen Höllenkonzert anschwillt.

Ich blicke auf die Uhr: Es ist gerade einmal 5 Uhr früh! Doch nach einem Café Criollo, gewürzt mit minütlich steigender Vorfreude, sind die Geister der Müdigkeit vertrieben. Schliesslich wartet Kubas Valle de Viñales auf mich – eines der schönsten Täler der Welt.

Ich schlendere einem mächtigen, golden aufglühenden Felsen entgegen. Die noch matte und schläfrige Sonne packt ihre Strahlen aus und lässt sie wie in Zeitlupe über eine Landschaft wandern, die nicht von dieser Welt, sondern eher dem Traum eines romantischen Dichters entsprungen zu sein scheint. Die schlank emporragenden Königspalmen verleihen dem Bühnenbild dieses Freilufttheaters Eleganz. Bauerngehöfte bringen eine rustikale Note hinein. Doch das leckerste Augenfutter sind die riesigen Felsbuckel, die sich wie Domkuppeln aus der dunkelroten und saftig grün überwachsenen Erde erheben.

Wissenschaftler verliehen den Formationen dieser Tropenkarst-Landschaft den Namen Mogotes, während die hier lebenden Bauern liebevoll von Elefantenrücken sprechen. So urtümlich wirkt die ganze Szenerie, dass ich mich über einen umherwandernden Dinosaurier nicht wundern würde. Und in der Tat gehören die Urzeitbuckel zu Kubas ältester geologischer Formation.

Vor etwa 150 Millionen Jahren nagten Flüsse an den weichen Gesteinsschichten und unterhöhlten die Region wie einen Schweizer Käse. Wind und Wetter modellierten dann die heutigen Felskegel heraus. Sie schmücken sich mit einem besonderen Kleid, sind überwuchert von einer dichten Pflanzendecke. Der Artenreichtum erstaunt, weil das herabprasselnde Nass sofort in den zerfurchten Kuppeln verschwindet. Den grünen Spezies, darunter viele Endemiten, ist´s egal – sie hatten viel Zeit, sich anzupassen. Stundenlang ziehe ich durch die Zauberwelt der Urzeit-Kegel und steuere dann eine Cafetería an, wo ich den Blick über die Weite des Tals schweifen lasse.

Plötzlich bekomme ich von hinten etwas in die Hand gedrückt. «Halt mal», sagt ein Mann, sein faltiges Gesicht strahlt. Verblüfft blicke ich auf eine Leine, die auf einmal in meinen Fingern liegt und in ein Gespann aus zwei massigen Ochsen mündet. Zum Glück sind die Riesen ganz ruhig und lammfromm. Der Alte trottet zur Bar, holt sich eine Flasche Rum, mustert mich vergnügt und lacht sich dann schlapp. Ich grinse zurück: «Ich bin ein guter Gehilfe, oder?»

Langsam kriegt sich mein «Arbeitgeber» wieder ein und nickt kichernd. «Buenos chicos», flüstert er seinen Bullen zärtlich zu und klopft ihnen auf die muskulösen Schultern. «Leisten gute Arbeit. Ohne sie wären wir verloren in diesen harten Zeiten!»

Mangelwirtschaft und die längste Blockade der Weltgeschichte, deren Korsett Ex-US-Präsident Trump noch enger schnürte – harte Zeiten herrschen auf Kuba fast immer. Extrem waren jedoch die 1990er-Jahre, als nach dem Kollaps des wichtigsten Handelspartners, der Sowjetunion, auch Kubas Wirtschaft einknickte. Ersatzteile fehlten an allen Ecken und Enden, viele Maschinen gaben ihren Geist auf, und bis auf eine Handvoll Lastwagen bewegte sich fast nichts mehr auf den Strassen. Ernten verrotteten auf den Feldern und gelangten nicht mehr in die Städte. Ochsengespanne erlebten ein grosses Revival.

Ganz so dramatisch wie in den Neunzigern ist Kubas Situation zwar nicht mehr, aber noch immer muss die Insel einen Grossteil der Lebensmittel importieren. Doch zumindest verschaffte ein neuer Verbündeter, Venezuela, Kuba mal eine Erholungspause. Der Deal: Kuba schickte seine ausgezeichneten Ärzte in Caracas` Armenviertel und bekam dafür aus Venezuela eine grosszügige Erdöl-«Transfusion».

«Hat sich die Situation nicht verbessert in den letzten Jahren, auch durch die Hilfe Venezuelas?» – «Ja, bis vor einiger Zeit sah das noch ganz gut aus. Aber jetzt hat Venezuela selbst Probleme mit den Yankees und liefert nur noch wenig Erdöl.» Aber solange er seine Chicos habe, komme er über die Runden, sagt der Alte. Einen Traktor könne er sich eh nicht leisten. Aber jetzt sei Feierabend. Er lädt mich ein, auf seinen Hof mitzukommen: «Komm, trink einen mit mir.» Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Bald darauf wippen wir in Schaukelstühlen und genehmigen uns einige Gläschen.

«Da fehlt noch etwas», ruft mein Gastgeber plötzlich, verschwindet in einer Scheune und kommt wenig später mit einem duftenden Tabakbündel zurück. Im Nu formen seine agilen Hände aus den samtigen Blättern die heiss begehrte Rauchware.

Das meiste müssen die Tabakbauern an den Staat abführen, sagt der Mann. Aber einen kleinen Vorrat behalte er immer für sich. Schliesslich wüssten die Kubaner, was gut ist!  Zum Beispiel der beste Tabak der Welt, der hier im Tal gedeiht und den man laut eines bäuerlichen Sprichworts nicht einfach nur pflanzen könne, sondern heiraten müsse.

Schon bald umhüllt uns eine süssliche Rauchwolke. Genüsslich ziehen wir an den puros und betrachten den sinkenden Sonnenball, der die Felsen im roten Licht badet.

Viel später, als die Nacht längst wie ein umgekipptes Tintenfass über das Tal geschwappt ist, wanke ich beschwingt zurück in den Ort, wo meine Pension liegt. In der Ferne ragt auf einem Hügel das hell erleuchtete Hotel Los Jazmines aus dem Ozean der Schwärze empor – wie ein Stern aus einer fernen Galaxie.

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