Im Angesicht Seiner Heiligkeit

 

Dass ich an einem solchen Ereignis teilnehmen kann, war nicht geplant. Einfach unbeschreiblich. Ich sitze im Schneidersitz auf weichen Teppichen im Garten des buddhistischen Klosters Samstanling in Ladakh, mitten im Himalaya, auf über 3000 Metern über Meer. Um mich herum sind Mönche und Nonnen in wallenden roten Gewändern und Ladakhis in ihrer Nationaltracht und Festtagskleidung. Viele tragen den auffälligen, zylinderartigen Traditionshut. Alleine das ist ein einmaliges Erlebnis. Dann ertönt eine angenehme, melodiöse und fesselnde Stimme aus den Lautsprechern – der Dalai Lama spricht!

Schon seit meiner Kindheit habe ich von einer Reise in den nordindischen Himalaya nach Ladakh, das auch Kleintibet genannt wird, geträumt. Aus beruflichen Gründen konnte ich nie im Sommer verreisen, der besten Reisezeit für Ladakh. Doch irgendwann hat die Sehnsucht die Oberhand gewonnen und nun bin ich hier. Und die Wirklichkeit übertrifft meine kühnsten Träume und Erwartungen.

Keine 24 Stunden sind vergangen, seit ich die Apfelbäume vor meinem Wohnzimmerfenster im Kanton Thurgau gegen eine Apfelplantage auf dem Dach der Welt auf 3500 Metern über Meer getauscht habe. Ich hätte nicht gedacht, dass hier oben Apfel- und Aprikosenbäume wachsen. Für eine gute Höhenakklimatisation sollte ich es am ersten Tag ruhig angehen lassen und der Anziehungskraft widerstehen, die Leh, der grösse Ort von Ladakh, ausstrahlt. So setze ich mich in den Schatten der Bäume und lausche einem Gespräch von nebenan, als ich plötzlich hellhörig werde.

Der Dalai Lama höchstpersönlich kommt nach Ladakh. Genau jetzt! Oh wow! Welch ein Glück, denke ich. Wieder einmal bin ich auf Reisen zur rechten Zeit am richtigen Ort. Doch noch weiss man nicht genau, an welchen Daten der Dalai Lama an welchen Orten sein wird. Die genauen Reisepläne werden zu seiner Sicherheit nicht öffentlich publiziert, nur der Termin eines grossen «Teachings» in der Nähe von Leh ist schon bekannt.

Doch zum Reisen bin ich hergekommen, also mache ich mich auf Entdeckungstour und tauche in die einzigartige Kultur Ladakhs ein. Ich nehme an der Morgenpuja, einem religiösen Ritual, im Kloster Thikse teil und besuche das Kloster Hemis. In Phyang findet gerade ein Klosterfest statt. Ich lasse mich davon verzaubern: Jeder Maskentanz erzählt eine Geschichte und hat eine Bedeutung. Auch wenn die Tänze extra für Touristen in den Sommer gelegt wurden, haben sie nichts von ihrer Magie eingebüsst.

Weiter geht es in Richtung Lamayuru, wo ich eine Wanderung ins Dorf Tar mache, das nur zu Fuss erreichbar ist. Mein Entdeckerinnengeist ist geweckt. Richtung Norden reise ich über den 5312 Meter hohen Pass Wari La ins Nubra-Tal, das Tal der Blumen. Und dann erfahre ich die Neuigkeit. Der Dalai Lama ist hier!

Das ganze Tal strömt heute Morgen zum Kloster Samstanling oberhalb vom Dorf Sumur. Entlang der Strasse flattern neben den Gebetsfahnen auch viele Banner im Wind, die den Dalai Lama willkommen heissen. Das ganze Nubra-Tal hat sich für den hohen Besuch herausgeputzt. Heute ist die Eröffnung einer dreitägigen Sommerdebatte vom Dalai Lama. Da er gerne zeitig aufsteht, beginnt die Debatte um 9 Uhr. Schon früh haben sich Besucher aus dem ganzen Tal eingefunden. Nonnen und Mönche reisten aus ganz Ladakh an. Beim Eingang gibt es eine Taschenkontrolle und ich muss ein Foto mit meiner Kamera machen, um zu zeigen, dass ich darin nichts versteckt habe.

Die Debatte findet im grossen Garten des Klosters statt. Mittig, direkt vor dem Tempel unter dem Vordach steht der grosse goldene Thron vom Dalai Lama. Jedes Kloster in Ladakh und Zanskar besitzt einen solchen reich verzierten Thron, der zentral in der Haupthalle des Klosters steht. Normalerweise ist darauf ein gerahmtes Foto Seiner Heiligkeit platziert.

Ganz vorne in Thronnähe sitzen die wichtigsten Lamas und einige Schulkinder in einheitlicher Uniform. Daran anschliessend befindet sich ein grosser Bereich für die ladakhische Bevölkerung, die in ihren schönsten Festtagsgewänder erschienen sind. Seitlich davon sitzen die Mönche und Nonnen aus dem ganzen Land. Gut zu erkennen sind zum Beispiel die Mönche vom Kloster Hemis, da sie eine andere Mützenform haben. Auch viele junge Novizen sind anwesend. Sie spielen, unterhalten sich und müssen es mit dem Stillsitzen und Aufpassen noch nicht so genau nehmen. Zwischen den Bäumen sind grosse Sonnensegel gespannt, damit es etwas Schutz vor der starken Sonne gibt. Seitlich vom Thron gibt es sogar einen Bereich für Menschen aus dem Ausland, wo auch ich Platz nehmen darf. Obwohl deutlich in der Unterzahl, wird die Rede für uns ins Englische übersetzt, kann jedoch nur über Radioempfang via Smartphone mitgehört werden.

Dorfbewohner schenken Buttertee aus. Ich bekomme auch ein leckeres Brötchen, eine Schale mit süssem Reis mit Rosinen, eine Flasche Wasser und Mangosaft im Tetrapak. All das wird vom Dorf organisiert und gespendet, denn es ist für die Einheimischen eine Ehre, den Dalai Lama und seine Gäste bewirten zu dürfen. Ich möchte gerne etwas zurückgeben, da es mich wirklich tief beeindruckt, wie gastfreundlich ich aufgenommen werde. Spenden für das Kloster oder das Fest werden aber nicht angenommen. Die Dorfbewohner haben schon für alles gesorgt, worüber sie unglaublich stolz sind. Beim Eingang stehen jedoch einige Mönche, die für ihr Kloster Spenden sammeln dürfen. Einerkommt sogar aus Nepal.

Pünktlich um 9 Uhr tritt der Dalai Lama aus dem Tempel und setzt sich mit einem herzlichen Lachen auf seinen Thron. Er hat eine einzigartige Ausstrahlung und ich komme nicht umher, der Begeisterung und Verehrung der Ladakhis zu folgen. Nicht nur uns wird eine Verpflegung gereicht, sondern auch der Dalai Lama trinkt genüsslich seinen Tee, isst sein Brot und lauscht den Reden des Begrüssungskomitees. Auch islamische Religionsvertreter sind anwesend und halten eine Rede. Das Nubra-Tal grenzt unter anderem direkt an Pakistan und einige Dörfer im Tal sind islamisch geprägt.

Dem Dalai Lama ist ein Miteinander sehr wichtig, Frieden und Mitgefühl für alle Lebewesen. Es folgen traditionelle Tänze der Schulkinder und der ladakhischen Frauen im Perak, dem kunstvollen, mit Türkis-Steinen geschmückten Kopfschmuck. Dann folgt das Highlight, die Rede des Dalai Lama. Sie hat eine unheimliche Kraft und Ausdrucksstärke. Ich geniesse die einzigartige Atmosphäre. Obwohl hier weit über 1000 Menschen versammelt sind, gibt es kein Gedränge und während der Reden ist es mucksmäuschenstill.

Da ich mich als Berufsfotografin ausweisen kann, darf ich sogar den Ausländerbereich verlassen und mich unauffällig – so gut das eben geht als Westlerin – zwischen die Leute mischen. Ich bin hier nur zu Gast und verhalte mich zurückhaltend. Dann erlebe ich wieder einmal die unglaubliche Freundlichkeit dieser Menschen: Direkt unterhalb vom Thron werde ich nicht etwa von den Journalisten, Filmern und dem Fotografen vom Dalai Lama vertrieben, sondern ganz nach vorne geschoben, von wo aus ich den Dalai Lama aus nächster Nähe fotografieren kann. Ich bin sicher, dass das auf keiner westlichen Veranstaltung passiert wäre. Dort verteidigen alle ihren Platz aufs Schärfste. Hier kann ich nur «Danke» sagen und mir vornehmen, etwas davon mitzunehmen und in mein Handeln einfliessen lassen.

Viel zu schnell ist alles vorbei. Der Dalai Lama zieht sich in den Tempel zur Meditation zurück. Hätte ich nicht hunderte Fotos gespeichert, würde ich das Ganze für einen Traum halten. Diese Begegnung werde ich immer in meinem Herzen tragen.

Die Präsenz des Dalai Lama begleitet mich auf meiner Weiterreise. Beim Besuch des imposanten Kloster Diskit, mit über 570 Jahren das älteste Kloster im Nubra-Tal, fotografiere ich die 32 Meter hohe Statue von Buddha Maitreya, die 2010 mit einem kleinen Tempel anlässlich eines Besuches des Dalai Lama errichtet wurde. Die Statue soll das Dorf und das Kloster Diskit beschützen, einem zukünftigen Krieg mit Pakistan entgegenwirken und der Welt Frieden bringen. Als ich auf den Kamera-Auslöser drücke, bildet sich genau über dem Kopf des Buddhas ein kreisrunder Regenbogen. Die Einheimischen sind sich sicher, dass dies wegen dem Besuch des Dalai Lama passiert. Obwohl ich weiss, dass Helos, kreisrunde Regenbogen, bei bestimmten Wettervoraussetzungen entstehen können, ist es ein sehr spezieller Moment.

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