Auf dem richtigen Weg
10 000 Kilometer hat Sonja Endlweber an der Seite ihres Partners, des Abenteuerreiters Günter Wamser, auf dem Pferderücken verbracht. Nun reitet sie mit ihren zwei Pferden und Hündin Leni alleine durch die kanadische Bergwelt und erlebt dabei eine neue Dimension von Freiheit.
Ausgabe: Nr. 135 Text und Fotos: Sonja Endlweber
Es ist stockdunkel. Noch ist der Mond nicht aufgegangen. Nur die Sterne tauchen die Landschaft in ein silbernes Licht. Im Pyjama stehe ich neben Lightfoot und Rusty und rede mit ruhiger Stimme auf die beiden ein. Mein Herz klopft wild. Lightfoot stösst ein scharfes, bedrohliches Schnauben aus und zerrt nervös am Führstrick. Ich umklammere diesen noch fester.
Die Pferde dürfen jetzt nicht abhauen. Rusty macht einige mutige Schritte nach vorne, springt dann aber erschrocken zurück und versteckt sich hinter seinem Kumpel. Ich habe ihm noch kein Halfter angelegt, doch jetzt wage ich es nicht, mich zu bewegen. Keine 100 Meter vor uns ziehen zwei grosse, dunkle Schatten über die Wiese. Sie kommen direkt auf uns zu. Hilflos stehe ich da, in einer Hand den Führstrick, in der anderen den Pfefferspray, und komme mir lächerlich vor. Was soll ich mit einem Pfefferspray bei zwei Grizzlybären? Leni liegt im Zelt und schläft. Ich schicke ein Stossgebet zum Himmel, dass meine kleine Hündin nicht aufwacht. Sie würde es sofort mit den Bären aufnehmen, und sie hätte keine Chance. Lightfoot zittert am ganzen Körper. Auch mir schlottern die Knie. Wäre doch Günter jetzt hier, denke ich, doch eigentlich würde das gar nichts ändern. Für die Bären macht es keinen Unterschied. Wenn sie mich fressen wollen, dann tun sie es so oder so. Für sie spielt es keine Rolle, dass ich alleine bin. Und so absurd die Situation auch ist, bei diesem Gedanken muss ich grinsen.
Wie alles begann
Die Idee, alleine loszuziehen, war beides: eine Trotzreaktion und eine Sehnsucht. Eine Sehnsucht danach, endlich wieder mit meinen Pferden in der Wildnis unterwegs zu sein. Da Günter sich lieber seinem neuen Abenteuer Weltumsegelung widmete, wollte ich eben alleine losziehen. «Ach, verschwende doch nicht deine Zeit, du traust dich ja doch nicht», hatte Günter dann beiläufig gesagt.
Ich sass am Boden, hatte die Wanderkarten vor mir ausgebreitet und tüftelte seit Stunden an einer Route. Touché! Das sass. Meine fragile Euphorie bekam sofort einen Sprung. Vielleicht hatte er ja recht. Vielleicht würde ich grosse Pläne schmieden und dann im letzten Moment doch vor meiner eigenen Courage zurückschrecken? Doch im selben Moment spürte ich, wie mein zaghafter Mut plötzlich Unterstützung bekam. An seine schwache Seite gesellte sich eine starke Stütze: der Trotz. Jetzt erst recht!
Nun geht es endlich los, und Monika holt mich und die Pferde von der Fiddle River Ranch in den kanadischen Rocky Mountains ab. Rund 600 Kilometer südwestlich, im Regenschatten der Coast Mountains, liegen die South Chilcotin Mountains. Sie zählen zu den schönsten und abwechslungsreichsten Wildnisgebieten der Provinz British Columbia. Für mich völliges Neuland. Wir rollen gemütlich auf dem Yellowhead Highway Richtung Süden. Die ersten 500 Kilometer fahren wir auf Asphalt, mit dem kleinen Ort Lillooet lassen wir diesen und den Grossteil der Zivilisation hinter uns. Ich bin dankbar für Monikas Gesellschaft. Eine bessere Fahrerin und Freundin hätte ich mir an diesem Tag nicht wünschen können. Ihre ruhige und optimistische Art ist ein wohltuender Kontrapunkt zur wachsenden Unruhe in mir.
Auf einer Lichtung nahe dem 40-Einwohner-Dorf Gold Bridge laden wir Rusty und Lightfoot aus. Nach der langen Fahrt sind sie gierig nach Bewegung. Nervös sehen sie sich um. Ligthfoot wiehert, spitzt die Ohren, wiehert nochmals. Und mir wird schlagartig klar, dass sie die anderen Pferde suchen. «Nein, Jungs, wir sind alleine.»
Plötzlich fühle ich mich sehr einsam, obwohl Monika noch bis zum nächsten Morgen da sein wird. Doch in diesem Moment, in dem die Pferde realisieren, dass sie alleine sind, wird auch mir bewusst, worauf ich mich einlasse. Vier Wochen alleine unterwegs. Warum kann ich mich nicht mit Badeferien auf Mallorca zufriedengeben?
Im Zelt gehe ich durch ein Wechselbad der Gefühle. Worauf habe ich mich da eingelassen? Wochenlang alleine in den Bergen. Kann ich das überhaupt? Mein Kopf sagt Ja, mein Bauch ist sich da nicht so sicher. Will ich das? Kopf und Bauch schwanken zwischen Euphorie und Bangen. Wie wirds mir gehen, wenn ich wochenlang alleine bin, ohne einem Menschen zu begegnen? Halte ich mich selbst aus? Mein Daumen pocht. Beim Einladen in den Trailer habe ich mir eine Schürfwunde zugezogen. Nichts Schlimmes, nur eine Erinnerung daran, aufzupassen.
Chaotischer Start
Am nächsten Morgen reiten wir den steilen, kurvigen Weg bergauf. In den 1920er-Jahren wurde dieser Pfad von Goldsuchern angelegt, die hier ihr Glück suchten. Die Pferde gehen flott voran. Zu flott, Lightfoot schwitzt bereits am ganzen Körper. Rusty bleibt immer wieder stehen und schnauft unter der Last seiner Packboxen. «Easy, boys, alles okay», sage ich. Doch sie spüren meine Unruhe.
Wir sind noch nicht lange unterwegs, da begegnen wir dem ersten Bären. Er sitzt direkt vor uns auf dem Weg. Einen Moment lang schaut er uns erschrocken an und springt dann mit zwei Sätzen in den Wald. Lightfoot scheut. Leni springt hinter dem Bären her. Ich fluche lautstark, brülle Leni zurück und versuche, die Kontrolle über mein Reitpferd nicht zu verlieren. 20 Minuten unterwegs, und schon versinke ich im Chaos! Doch es geht gut aus, der Bär verschwindet, Leni kommt zurück, und Lightfoot und Rusty beruhigen sich wieder. Nur mir schlottern die Knie.
Zwei Stunden später haben wir bereits über 1000 Höhenmeter zurückgelegt und die Baumgrenze erreicht. Doch die alpinen Wiesen, auf denen ich die erste Nacht verbringen wollte, sind weiss. Ich fluche erneut. Hätte ich vielleicht doch auf den Rat der Einheimischen hören sollen? «Da kannst du nicht hochreiten, es hat immer noch viel Schnee», hatte mir ein Ranger des Provinzparks vor zwei Tagen am Telefon gesagt. «Es sei denn, deine Pferde können über Lawinen klettern.»
Ich war unsicher und traurig. Mit einem einzigen Satz hatte er all meine Pläne zunichtegemacht. Doch warum sollte es diesmal anders sein als in all den Jahren davor? Es war doch schon immer so, dass irgendwer gesagt hat: Was ihr machen wollt, geht nicht. Wenn wir immer auf diese Ratschläge gehört hätten, wären wir niemals losgeritten. Und so beschloss ich: Ich werde mich nicht abhalten lassen, sondern einfach losgehen und es selbst herausfinden.
Ich binde die Pferde an, setze mich auf einen Felsen und betrachte die Schneelandschaft. Wunderschöne Skitouren könnte man hier machen. Eine Träne kullert über meine Wange. Ich will nicht umkehren, doch mein Abenteuer fühlt sich bereits jetzt an wie ein Misserfolg. Ich kann das Scheitern riechen – es riecht nach Schnee. Nicht nur, dass der Schnee ein Hindernis ist, es gibt hier auch fast kein Futter. Wäre Günter jetzt hier, was würde er tun? Am liebsten würde ich losheulen, doch gleichzeitig wird mir bewusst, wie sinnlos das ist. Es ist keiner da, um mich zu trösten, und es ist auch keiner da, den ich um seine Meinung fragen kann. Ab jetzt werde ich alle Entscheidungen selbst treffen müssen.
Ich raffe mich auf, sattle ab und binde die Pferde an. Dann mache ich mich mit Leni auf den Weg, die Berge rundum zu erkunden. Der Pass Richtung Westen ist völlig eingeschneit. Bis zum Oberschenkel versinke ich im Tiefschnee. Leni klettert mühevoll in meinen Fussstapfen hinterher. Keine Ahnung, wo der Trail verläuft. Hier kommen wir nie durch.
Ohne Hoffnung wende ich mich Richtung Norden, hinauf zum Camel Pass. Ich bin sicher, dass auf der Nordseite grosse Schneefelder auch diesen Weg versperren. Dann würde uns nichts anderes übrigbleiben als der Rückzug ins Tal. Ich hetze bergauf, denn ich will die Pferde nicht zu lange alleine lassen. Atemlos stehe ich eine Stunde später auf dem Pass auf 2300 Metern über Meer. «Wow, Leni, schau dir das an!» Jetzt erst halte ich inne. «Wunderschön!»
Leni ist das völlig egal. Sie schnüffelt hinter jedem Felsen nach den Spuren der Murmeltiere und Pfeifhasen. Die Aussicht auf die schneebedeckten Berge, die sich Gipfel hinter Gipfel in scheinbar endloser Abfolge rundum erheben, lässt sie kalt. Ich atme tief durch und betrachte die Nordseite des Passes. Hie und da gibt es freie Flächen zwischen den Schneefeldern. Der Abstieg ist weder steil noch exponiert. Ich laufe ein Stück bergab. Jetzt, abends, ist der Schnee weich, aber mit etwas Glück friert es heute Nacht. Ich weiss noch nicht, ob wir da runterkommen, aber es ist nicht unmöglich.
Zwei Stunden später bin ich zurück bei den Pferden. Nicht euphorisch, aber doch voller Optimismus und Tatendrang. «Ich glaube, wir können diesen Pass schaffen. Und wenn wir den schaffen, dann schaffen wir auch alle anderen», erzähle ich Leni vor dem Einschlafen, dankbar, dass ich eine Zuhörerin habe. Sie antwortet mir mit einem treuherzigen Blick. Es ist mir egal, wohin wir gehen, scheint dieser zu sagen, solange wir dort gemeinsam hingehen.
Im Zwei-Stunden-Rhythmus stehe ich auf und lasse Lightfoot und Rusty abwechselnd frei. In dieser ersten Nacht wage ich es nicht, den E-Zaun aufzustellen. Zu gross ist die Gefahr, dass sie ausbrechen, und ich könnte es ihnen nicht einmal übel nehmen. Es gibt hier einfach zu wenig Futter.
Hoch hinaus
Wir bewältigen den Pass ohne Probleme. Immer wieder laufe ich voraus, versuche die Schneefelder zu umgehen oder den sichersten Weg hindurch zu erkunden. Die Pferde stapfen ohne Zögern durch den Schnee. Nur einmal muss ich ein Schneefeld mit der Handsäge abflachen, damit sie nicht abrutschen. Doch ich weiss, ich kann mich auf ihre Trittsicherheit verlassen.
Es ist, als wäre man mit alten Bergkameraden unterwegs. Ein eingespieltes Team. Wir steigen weglos ab und wieder hinauf zum Eldorado Pass und weiter zum Windy Pass – klettern von einer Passhöhe zur nächsten, durch wunderschöne, alpine Landschaft, unter strahlend blauem Himmel. Die Aussicht auf die Berggipfel der Coast Range ist fantastisch. Was für ein herrlicher Tag! Jetzt bin ich euphorisch, nein, mehr noch, ich bin glücklich!
Tagelang ziehen wir so dahin, über Berge und entlang malerischer Flusstäler. Ohne Zögern stapft Lightfoot durch den Tyaughton Creek. Das Wasser ist eiskalt, tief und die Strömung stark, und ich geniesse es so richtig, auf einem Pferd zu sitzen. Zu Fuss könnte ich diesen Fluss nicht queren.
Wir begegnen Maultier- und Weisswedelhirschen, Murmeltieren und sogar einem Luchs und sehen immer wieder Bärenspuren. Oft sind die Hinterlassenschaften der Bären so frisch, dass ich sicher bin, sie haben sich über uns erschreckt und aus Angst noch schnell einen Haufen hinterlassen.
Am 1. Juli feiere ich meinen Geburtstag. Es gibt keinen Sekt, keine Torte, keine Päckchen, und doch fühle mich reich beschenkt. Die Pferde liegen im hohen Gras und geniessen die Morgensonne. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand setze mich neben Lightfoot und lehne mich an seinen warmen Körper. Leni klettert auf meinen Schoss. Dank den Tieren fühle ich mich nicht einsam, ja, ich habe nicht das geringste Bedürfnis, mit der Welt in Kontakt zu treten.
Nach dem Frühstück nehme ich ein Bad im Fluss. Eiskalt – aber herrlich! Was macht das Leben hier draussen so zum Genuss? Es ist die Nähe zur Natur, die Energie, die Ruhe, die Einfachheit. Es tut gut, den ganzen Tag körperlich zu arbeiten, zu wandern, Feuerholz zu machen, Wasser zu holen. Es macht mich stolz, Herausforderungen zu meistern, und glücklich, die Pferde abends mit gutem Futter zu belohnen und zu sehen, wie Leni den Tag geniesst. Mit 11 Jahren ist sie keine junge Hündin mehr, doch sie hält gut mit. Sie geniesst ihre Freiheit. Es gibt für sie viel zu entdecken.
Über die Autorin
Sonja Endlweber (47), geboren in Wien, promovierte an der Wirtschaftsuniversität Wien und arbeitete als Unternehmensberaterin, bis sie 2006 in den Bann des Abenteuerreiters Günter Wamser geriet. Spontan entschied sie, ihren Beruf an den Nagel zu hängen und sich ganz ihrer Leidenschaft, dem langsamen, naturnahen Reisen, zu widmen.
Wie geht die Geschichte weiter?
Aus lauter Übermut geschieht ein Unfall, doch alles kommt gut, jedenfalls bis zu jener Nacht, in der die Bären aufkreuzen. Ob es Sonja, Leni und die beiden Pferde trotz Unfall, Bärenbesuch und Waldbrand heil nach Hause schaffen?