Zwei Frauen im Fahrtwind

Das Tuk-Tuk ist in Asien ein weitverbreitetes Transportmittel. Dass zwei Frauen damit durch Sri Lanka fahren, ist hingegen eher ungewöhnlich. Während ihrer Reise machen die beiden Bekanntschaft mit den Tücken des dreirädrigen Gefährts – und mit liebenswerten Menschen.

Ausgabe: Nr. 121     Text und Fotos: Sara Sommer

Die Ärztin beordert neun sri-lankische Frauen und mich in den Untersuchungsraum. Ihr strenger Blick und der beachtliche Körperumfang lassen uns schweigend folgen. Sie sinkt in einen Bürostuhl, wir drücken uns an die gegenüberliegende Wand. Draussen bellt ein Strassenköter. Ich schwitze. «Mach einfach, was die andern tun», befiehlt Frau Doktor. Ich strecke die Hände aus, lasse sie kreisen, balle sie zu Fäusten, balanciere auf einem Bein, hüpfe an Ort, zeige ihr meine Fusssohlen und lasse mir in die Augen schauen, damit sie mich später für psychisch stabil erklärt. Sie misst meinen Blutdruck, prüft, wie mein Herz schlägt, wie meine Lungen sich füllen und leeren.

Seit vier Stunden befinde ich mich im Strassenverkehrsamt von Sri Lankas Hauptstadt Colombo, habe mir von drei verschiedenen Ärzten Blut nehmen, mich wägen und messen lassen und beim Warten in der Mittagshitze beinahe den Verstand verloren. Jetzt endlich erbarmen sie sich. Kurz vor dem Kollaps werde ich für gesund befunden. In der folgenden Stunde hetze ich von Counter 14 zu Counter 17 zu Counter 5 zu Counter 9 und lande wieder bei Counter 14. Dann halte ich den Tuk-Tuk-Führerausweis für Sri Lanka in der Hand. Noch nie hat mir ein schlecht kopiertes Bündel Papier mehr Glücksgefühle beschert. Fahren musste ich nicht.

 

Eine Idee im Kopf

Ein Tuk-Tuk ist ein dreirädriges, meist als Taxi eingesetztes Transportmittel. Es sieht vorne aus wie eine Vespa und hat hinten eine überdachte Sitzbank für maximal drei Passagiere. Offiziell. Inoffiziell passt eine Grossfamilie inklusive Anhang und Hausrat rein. Hinter der Sitzfläche werden die Einkäufe oder der Trekkingrucksack verstaut – oder auch gar nichts, weil der Fahrer schon eine Musikanlage eingebaut hat, mit der er locker das Zürcher Hallenstadion beschallen könnte. Seinen Namen verdankt das Tuk-Tuk dem Klang seines Zwei- oder Viertaktmotors. Dazu kommt der Sound einer im Sekundentakt betätigten Hupe.

Tuk-Tuks gehören zu Sri Lanka wie die Gewürze zu den Currys, die Pilger zu den Tempeln, der Tee zum Hochland, die bunten Saris zu den Hochzeiten und die Elefanten zu den Nationalparks. Auch im entlegensten Kaff, auf der schlaglöchrigsten Schotterpiste, in der schmutzigsten Gasse, ja sogar am Strand tauchen sie auf. Das Einzige, was ihnen Konkurrenz macht, sind die heiligen Kühe.

Natürlich lässt sich Sri Lanka auch im klimatisierten Minivan mit ortskundigem Fahrer bereisen. Doch wir, zwei Freundinnen aus Zürich, wollen die Tortur. Wir wollen stundenlanges Warten, wollen verzweifeln auf der Suche nach einem passenden Gefährt und von den Einheimischen für verrückt erklärt werden. Wir wollen uns mit einem eigenen Tuk-Tuk mitten ins sri-lankische Leben stürzen, um von den Menschen und ihrem Schicksal zu erfahren, um zu sehen, was verbindet und was trennt. Die Rollen sind bereits klar: Während Alexandra, die keinen Führerschein besitzt, von der Rückbank aus navigiert, spiele ich die Chauffeuse.

«Be happy!»

In Colombo steigen wir in Fernandos Dreirad. Er spielt Trompete in einer Band, meist an Hochzeiten. Um sein bescheidenes Musikergehalt aufzubessern, fährt er nebenbei auch Tuk-Tuk-Taxi. Über seinem Reisbäuchlein hat er den Dhoti verknotet, das traditionelle Beinkleid der sri-lankischen Männer. Grinsend drückt er aufs Gaspedal. Auf Wikipedia steht: «Selbst leichte Unfälle können für die Passagiere schlimm ausgehen, da das dünne Blech kaum Schutz bietet.» Hätte ich besser nicht gelesen. Ich bin übermüdet und dünnhäutig genug, um bei jedem haarscharf überholten Bus zu überlegen, wo ich meinen Organspendeausweis verstaut habe. Kennt man so etwas in Sri Lanka überhaupt? Meine Reisegefährtin Alexandra sitzt tiefenentspannt auf dem abgewetzten Polster und winkt den Leuten auf der Strasse zu. Fernando hat heute Morgen drei Räucherstäbchen für sein Tuk-Tuk angezündet. «No problem, my Tuk-Tuk good luck. Be happy!» Er zwinkert mir durch die Rückspiegel zu. «Schau auf die Strasse!», denke ich. Er sieht kaum durch die über und über mit Stickern beklebte Frontscheibe. Auf den Stickern stehen Lebensweisheiten wie «Life is nice rainbow», «My dream is a flying» oder «No money, no funny, no sunny».

Wir stehen vor einem Rotlicht. Nein, eigentlich nach einem Rotlicht. Die Nase unseres Tuk-Tuks ragt in die Querstrasse, wo die Ampel auf Grün steht und eine Welle aus Bussen, Lastwagen, Autos, Motorrädern und anderen Tuk-Tuks auf uns zurollt. Ich schliesse die Augen, höre das Hupen, den ohrenbetäubenden Motorenlärm, den Sound Colombos.

Fernando trägt keine Schuhe, seine nackte Fusssohle drückt auf die Bremse, die rechte Hand spielt mit dem Gas, mit der linken richtet er den Rückspiegel auf Alexandra, wohl in der Hoffnung, dass sie gesprächiger ist als ich. Dann fährt er los. In Sri Lanka herrscht Linksverkehr, überholt wird also rechts. Theoretisch. Haarscharf fährt Fernando links an einem übervollen Bus vorbei. Während ich auf die in Augenhöhe rotierenden Busräder starre, wird mein linker Ellbogen beinahe von einem andern Tuk-Tuk gerammt, aus dem uns acht Schulkinder zuwinken und «Hello Madam» rufen. Vor uns ist Stau. Fernando findet eine Lücke, obwohl da keine ist. Ich wische mir den Schweiss von der Stirn. Betrachte den schwarzen Handrücken und frage mich, was Alexandra und mich geritten hat, als wir beschlossen haben, selber so ein Höllengefährt zu steuern. Ich will mich ins Leben stürzen, ja, aber nicht ins Unglück.

 

Trainingsfahrten

Die ersten Wochen fahren wir Probe. Überall, wo wir vorbeikommen, fragen wir die Fahrer, ob ich mich hinters Steuer setzen darf. Keiner sagt Nein. Keiner will sich das Spektakel entgehen lassen. Frauen, die Tuk-Tuk fahren, sind in Sri Lanka eine Rarität. Handelt es sich dabei zudem um Touristinnen, könnte die Attraktion kaum grösser sein.

Auf unsere Ausflüge nehmen wir oft jemanden mit. Die Guesthouse-Besitzerin Chandima zum Beispiel, die sich vor Lachen kugelt, wenn die Menschen am Wegrand angesichts der aussergewöhnlichen Besatzung mit offenen Mündern stehen bleiben. Die schöne Kumudu mit dem stolzen Gang einer Tänzerin, die in ihrer roten, aufwendig bestickten Kurta – einer Art knielangen Bluse, die sie über Baumwollhosen trägt – eher in einen Rolls-Royce als in unsere klapprige Blechkiste passt. Lanka, den Koch und Tuk-Tuk-Besitzer, der mit seinem krausen Haar und dem breiten Lachen aussieht wie der junge Roberto Blanco. Sein Gefährt entpuppt sich als dreirädrige Zicke. Dass Alexandra neben Lanka fast von der Rückbank fällt, stellt sich bald als das kleinste Problem heraus. Schon beim Einsteigen habe ich das Gefühl, das Tuk-Tuk mache sich extra klein. Nachdem ich meine Beine irgendwie unter die Lenkstange gezwängt habe, weiss ich noch immer nicht, wohin mit dem Kopf. Entweder ist Lanka kleiner, als er wirkt, oder er ist sehr, sehr biegsam. Der Motor gibt kein Lebenszeichen von sich. Lanka erklärt, dass ich mit mehr Gefühl an die Sache rangehen müsse. Nach einer Ewigkeit kriege ich den ersten Gang rein. Das Tuk-Tuk macht ein Geräusch, das an brechende Knochen erinnert. Ich schaue nicht in den Rückspiegel, aus Angst, darin Lankas schmerzverzerrtes Gesicht zu entdecken. Langsam nehme ich die erste Kurve in Angriff. Die Bremsen funktionieren nicht. Lanka sagt, das mache nichts, normalerweise gehe er einfach vom Gas.

Mit Tuk-Tuks ist es wie mit Beziehungen. Manchmal stimmt die Chemie nicht. Es ist ein einziges Geknorze und Geächze, bis man sich entscheidet, getrennte Wege zu gehen. Manchmal braucht es eine gewisse Zeit, bis man die Macken des anderen kennt und weiss, wie man damit umgehen muss. Und dann stellt sich plötzlich der Flow ein, das Fliessen, die Leichtigkeit. Man wird ein eingespieltes Team, das sich mit Coolness vorwärtsbewegt.

Leider sind alle Tuk-Tuks, mit denen wir uns eine mehrwöchige Liaison vorstellen könnten, schon vergeben oder wahnsinnig teuer. Wir erkundigen uns in Hotels, bei tamilischen Freunden und bei den Tuk-Tuk-Fahrern auf der Strasse. Das Gespräch verläuft immer ähnlich: «Kennt ihr jemanden, der uns sein Tuk-Tuk vermieten würde?» – «Ihr braucht einen Fahrer? Kein Problem.» – «Äh, nein. Wir fahren selber.» – «Oh. Warum?» – «Just for fun. Kennt ihr jemanden?» – «Ich könnte euch ein Auto organisieren.» – «Danke, aber wir möchten lieber ein Tuk-Tuk.» – «Okay, das ist eine tolle Idee. Viel Glück!»

Über die Autorin

Sara Sommer ist seit Jahren regelmässig in Süd- und Südostasien unterwegs, mal für ein Jahr, mal für ein paar Wochen. Im Moment frönt sie ihren beiden Leidenschaften, dem Reisen und dem Schreiben. Sie ist überzeugt, dass jeder Mensch eine Geschichte zu erzählen hat. In der Schweiz arbeitet die 38-jährige Zürcherin als freie Journalistin und Logopädin.

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Wie geht die Geschichte weiter?

Die beiden Frauen beginnen, an ihrem Vorhaben zu zweifeln, bis sie plötzlich den sri-lankischen Bob Marley in seinem Tuk-Tuk treffen – das Abenteuer kann beginnen!

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