Auf den Spuren eines Lebensgefühls

Plovdiv ist 2019 Europäische Kulturhauptstadt. Unter dem Motto «together» will das Initiativkomitee Menschen zusammenbringen. 360 000 Einwohner leben in der nach Sofia zweitgrössten und mit Abstand ältesten Stadt Bulgariens. Gegründet wurde sie von den Thrakern vor mehr als 6000 Jahren. Die sympathischen, teilweise sehr gegensätzlichen Quartiere und verborgenen Winkel Plovdivs erkundet man am besten in Begleitung von Einheimischen.

Ausgabe: Nr. 128     Text und Bilder: Robert B. Fishman

Die Sonne taucht das Kreativquartier Kapana in goldenes Herbstlicht. In der Bar «Katz und Maus» oder nebenan im «CU29» mit der kleinen Kunstgalerie zischen Kaffeemaschinen. Die ersten Gäste sitzen draussen auf Sesseln, Bistrostühlen und Holzbänken. Der milde Wind spielt mit den bunten Wimpeln, die, an Schnüren aufgespannt, über den Kopfsteinpflaster-Gassen flattern. Der Zen-Moment: Alles ist gut.
In einem CNN-Artikel hatte ich von Ayliak gelesen, dem besonderen Plovdiver Lebensgefühl. Die Autorin beschreibt es als entspannt, in sich ruhend und unerschüttert von all der Hektik des Alltags. «Diese Beschreibung trifft es ganz gut», sagt Vaselina. Morgens in der Kapana erlebe sie es besonders intensiv. Die 33-jährige Marketingfachfrau arbeitet für «Lost in Plovdiv», einen Onlinestadtführer mit Lokalzeitung und eigenem Blog. Wie fast alle jungen Leute hier spricht sie fliessend Englisch. Viele haben im Ausland gelebt oder studiert. Nun kommen sie zurück.

«Hier gibt es viele Möglichkeiten», erzählt Vera. Auf ihrer Internetseite «Green Revolucja», grüne Revolution, verkauft sie ökologische Produkte: wiederverwendbare Trinkhalme aus Metall, Naturkosmetik und Shampoos in Gläsern oder Zahnbürsten aus Bambus, die sie selbst entwirft. Bulgarien sei für Start-ups ideal, schwärmt die junge Frau, die in England Public Relations studiert hat. Überall habe man schnelles Internet. Die Steuern seien niedrig. Weil es nirgends Biowaschmittel im Glas gab, beauftragte die Jungunternehmerin eine Bekannte mit der Herstellung solcher Produkte. Inzwischen arbeiten die beiden gut zusammen und sind Freundinnen geworden. Ihre Geschäftsidee hat Vera aus Indien mitgebracht, wo sie in einem bioveganen Camp einen Freiwilligendienst absolviert hat. Hier in Plovdiv hat sie sich durch diese Erfahrung einen Sinn gebenden Job geschaffen.

Gründergeist

Vor allem in der Kapana treffe ich auf optimistische Menschen, die ihr Leben in die Hand nehmen. 2012 hatte die Stadtverwaltung beschlossen, das verfallene und fast verlassene ehemalige Handwerkerviertel am Rande der Innenstadt wieder zu beleben. Leer stehende Läden in den zwei- und dreistöckigen Häusern wurden für ein Jahr kostenlos an Unternehmensgründer vergeben. Viele renovierten selbst, eröffneten Kneipen, Clubs, Restaurants, Imbisse, Designerläden, Boutiquen oder Geschäfte für ausgefallene Souvenirs. Das Konzept ging auf. An den Wochenenden ist die Kapana voll. Die Leute kommen sogar aus dem 150 Kilometer entfernten Sofia zum Einkaufen, Feiern, Entspannen, Musikhören und wegen der Kunst. Valizar zum Beispiel hat mit seinen Eltern eine Bar eröffnet. Den Kellerraum hat er zur Galerie umgebaut, in der er Künstlern eine Plattform bietet, ihre ganz persönlichen Werke zu präsentieren.

Auch die Musik lockt Besucher in die Kapana. Gleich am Eingang des Quartiers hat sich Asya ihren Traum erfüllt: Die begeisterte Swingtänzerin kündigte ihren gut bezahlten Job als Anwältin in Sofia, um hier die erste Swingbar des Landes zu eröffnen. Im stylish-modernen Raum mit viel Holz und Stahl servieren ihre Angestellten Cocktails nach Originalrezepten aus den USA. Obwohl ich sonst nie Cocktails trinke, fällt es mir schwer, keinen Drink zu bestellen. Asya organisiert das jährliche Swingfestival, das zuletzt von mehr als 800 Gästen besucht wurde und nun Teil des offiziellen Kulturhauptstadt-Programms ist. Jeden Donnerstag lädt sie zur Swing Dance Night.
«Die Leute sind oft so begeistert, dass sie auf der Strasse weitertanzen», erzählt sie. Natürlich frage ich auch sie nach dem Geheimnis des Ayliak. Das Wort kommt aus dem Türkischen, wo es viele Bedeutungen hat. «It’s a Plovdiv state of mind. Den erreichst du, wenn du die Dinge mit Hingabe und Ruhe machst: runterkommen, entspannt in dem aufgehen, was du gerade tust, eine Art Flow.» Die 38-Jährige findet diesen Zustand im Swing.

Plovdiv habe sich seit der Wahl zur Europäischen Kulturhauptstadt vor vier Jahren zum Positiven verändert: «Die Leute renovieren und dekorieren ihre Häuser», berichtet die Frau mit den langen dunklen Haaren und den knallrot geschminkten Lippen. «Überall eröffnen Kneipen und Läden.» Es gebe immer mehr Kulturveranstaltungen und die Einheimischen hätten enorm an Selbstvertrauen gewonnen. «Sie glauben an sich und an ihre Stadt.» Neuer Bürgerstolz hat Plovdiv bunter und lebendiger und somit für den Tourismus attraktiver gemacht. Die üblichen Pubcrawls, geführte Velotouren, Themenstadtführungen und andere Events für Touristen gibt es noch nicht. Wer mag, schliesst sich vor dem Rathaus einer kostenlosen Walkingtour an.

Aussichten

Gleich um die Ecke, in der ältesten Bar des Viertels, serviert Ivo mehr als 100 Sorten Bier. Daneben betreibt er mit Freunden eine Onlinelokalzeitung. Er ist schon auf dem Sprung zum nächsten Termin: Einige Leute haben eine Demonstration angesetzt, weil sich ein Minister abfällig über Alleinerziehende und Frauen geäussert hat. Das wollen die jungen Menschen nicht hinnehmen. Allmählich entsteht in den bulgarischen Städten eine Zivilgesellschaft, die sich von den oft korrupten Politikern nicht mehr alles gefallen lässt.

Gefunden habe ich Vaselina, Vera und viele andere im Internet. Auf Facebook tauschen sie sich aus, helfen einander, organisieren gemeinsame Ausflüge oder Kneipenabende. Mit einem Mausklick war ich in der Gruppe aufgenommen. Viele wollen mir vom Leben in ihrer Stadt erzählen und mir ihre Lieblingsplätze zeigen.

Auch Dilian. Am liebsten geht er durch die Gassen der Altstadt zum römischen Amphitheater. Hinter den weissen Marmorbänken des in den Berg gegrabenen Theaters taucht die untergehende Sonne die Innenstadt in goldgelbes Licht. Der Autor von Theaterstücken und Kurzgeschichten erklärt mir, was es im Tal zu sehen gibt. Er selbst ist fast blind. «Ich erkenne ungefähr zwei Prozent, nur ein bisschen hell oder dunkel. Hier oben spüre ich den Wind und höre die Geräusche der Stadt.» Eines seiner Gedichte entstand hier. Er liest vor, hält zwischendurch inne und geniesst den kühlen Abendwind. Mit 25 Jahren ist er Bulgariens Jugenddelegierter bei den Vereinten Nationen, fliegt nach London, New York, traf schon den UN-Generalsekretär zum Gespräch. Auf dem holprigen Weg über das grobe Altstadtpflaster, aus dem Steine zentimeterweit vorstehen, führt ihn seine sehende Freundin. Die beiden sind ein eingespieltes Team mit viel Engagement für ihre Stadt.

Hingabe

Auch Mihaela hat ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht. Ihre fröhlich-bunten Handyfotos aus Plovdiv kamen auf Instagram gut an. Freunde brachten sie auf die Idee, die Aufnahmen auf Holzplatten, Magnete und als Postkarten drucken zu lassen. Mit ihrem Bruder Petar mietete sie einen winzigen Laden in der Kapana. Dort verkaufen sie die Bilder und andere Souvenirs. Petar liebt seine Heimatstadt. Obwohl er einen Studienplatz in Deutschland angeboten bekam, ist er hier geblieben. «Ich muss regelmässig durch die Gassen der Altstadt laufen und brauche das Plovdiver Lebensgefühl», erzählt mir der kräftige junge Mann.

Plovdiv, wie Rom auf sieben Hügeln erbaut, schmiegt sich an die Aussichtsplätze, von denen aus die Einheimischen gerne die Sonnenuntergänge geniessen. Ich begleite Mihaela auf ihren Lieblingshügel, den Danov. Wir gehen durch die renovierte Fussgängerzone, vorbei an der lebensgrossen Miljo-Statue: «Ein Plovdiver Original», erklärt mir Mihaela. Ihn kannte hier jeder, er war immer da, stets freundlich und konnte nur schlecht hören. Deshalb hält sich die lächelnde Figur eine Hand ans Ohr.

Dahinter schlängelt sich der Weg zwischen einfachen Häusern des frühen 20. Jahrhunderts hinauf ins Grüne. Oben auf dem Aussichtsplateau steht ein altes, grau verputztes Häuschen mit einem Sendemast. Mihaela hält mit ihrem Smartphone die Aussicht über die roten Dächer der Innenstadt bis in die Berge der Rhodopen fotografisch fest. Zur anderen Seite blickt man über das Stadtzentrum mit der Fussgängerzone. Leise rauscht im Tal der Verkehr. Der Wind säuselt in den bunten Herbstblättern der Bäume, während die Sonne hinter dem gegenüberliegenden Aljoscha-Hügel verschwindet. Auf dem Gipfelchen trohnt ein überdimensionaler Sowjet-Soldat. Die Plovdiver wollten das Mahnmal aus sozialistischer Zeit behalten.

Schattenseiten

Unten in der Stadt, am Fusse des Danov, harrt ein weiteres Überbleibsel aus der Nachkriegszeit seines Schicksals. Nachdem mir so viele Leute vom legendären Kosmos-Kino erzählt haben, schaue ich mir den geheimnisvollen Bau aus der Nähe an. Realsozialistischer Brutalismus vom Feinsten: zwei, drei Etagen hohe Betonplatten mit Glasfronten und weiss-grauen Ornamenten, von denen der Putz bröckelt. Drinnen erspähe ich einen weiten Raum mit einer breiten, geschwungenen Freitreppe.

Die rote Diktatur wünschen sich die wenigsten Plovdiver zurück, auch wenn es damals (offiziell) keine Arbeitslosen gab. Nach 1989 haben sich einige wenige das einstige «Volkseigentum» unter den Nagel gerissen. Das Volk ging leer aus. Bitter war die Wende vor allem für die Roma, die zu Ostzeiten zumindest einfache Jobs zugewiesen bekamen. Ihre Arbeitsstellen sind längst verschwunden.

Im heruntergekommenen Plattenbauviertel Stolipinowo am Stadtrand leben mehr als 50 000 Roma. Mein deutscher Kollege Mirko unterstützt seit den 1990er-Jahren eine Lehrwerkstatt am Rande des Viertels, in der Frauen aus der Siedlung das Nähen lernen. Über lange Flure führt mich Projektleiterin Maria in ein Klassenzimmer, in dem sechs junge Frauen an Nähmaschinen sitzen. Ein bisschen unsicher schaue ich in freundliche, runde Gesichter. Ihre Wünsche klingen für mich bescheiden. Sie möchten einen Beruf lernen, Arbeit finden und eigenes Geld verdienen.

Viele Familien haben am Ende des Monats nicht genug zu essen. Die Männer schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch, handeln mit allem Möglichen, arbeiten bei der Müllabfuhr oder als Strassenkehrer. Gemäss Schätzung können bis zu 80 Prozent der Roma in Stolipinowo weder lesen noch schreiben. Maria erzählt mir, dass viele Bewerberinnen die sechsmonatige Ausbildung in der «Zukunftsnäherei» machen möchten. Oft bestünden jedoch die Ehemänner darauf, dass ihre Frauen zu Hause blieben. Mirko versichert mir, dass die Zukunftsnäherei allen Absolventinnen einen Job im ersten Arbeitsmarkt vermitteln könne. Das sei einmalig in Bulgarien. Die Textilunternehmen warteten schon auf den nächsten Jahrgang. Trotzdem erhält die Werkstatt keine finanzielle Unterstützung, weder vom Staat noch von der Stadt.

Potenzial

Ich lerne Neli kennen, die bei der Stiftung für die Europäische Kulturhauptstadt Projekte in der Romasiedlung organisiert. Sie ist in einem der Plattenbauten am Rande des Viertels aufgewachsen. Dort leben vor allem ethnische Bulgaren. Neli erinnert sich an ihre Kindheit in den 1990er-Jahren. Mit den Roma hatte weder sie noch ihre Eltern ein Problem. «Das waren ganz normale Nachbarn wie alle anderen auch.» Auch in Stolpinowo soll es aufwärtsgehen. Der Ausdruck «aller Anfang ist schwer» scheint hier zu passen. Im westlichen Teil des «Romaghettos» schrauben Männer auf der Strasse an alten Autos. Andere verkaufen Hausrat auf dem Bürgersteig oder in winzigen Läden. Es gibt die in Bulgarien beliebten kleinen Kioske, die von Zigaretten über Kekse, Wasser, Bier und billigen Wein bis hin zu Klopapier alles für den Alltag anbieten. Am Stras­senrand liegen Berge von Müll. Dazwischen spielen Kinder. Ein Mann um die 40 spricht uns an: «Aus Deutschland?» Er war auf der Suche nach Arbeit im Ruhrgebiet und ist nun wieder zurück. «Hier alles Scheisse: kein Geld, kein Essen, kein Trinken, keine Arbeit», schimpft er. «Viele Mädchen werden von den Eltern noch immer mit 12 oder 13 Jahren verheiratet. Mit 18 Jahren haben manche schon drei Kinder. Bildung bleibt in solchen Familien oft auf der Strecke», erzählt Neli.

Nach einer Woche verlasse ich Plovdiv mit gemischten Gefühlen. Die engagierten jungen Leute in der Kapana haben mich mit Elan und Optimismus begeistert, die Eindrücke in Stolipinowo deprimiert. Die bulgarische Politik wird in Sofia gemacht, weit weg von den Problemen im Land. Vor Ort engagieren sich immer mehr Menschen für ein besseres Miteinander, sei es in der «Zukunftsnäherei» oder der Bürgerinitiative, die Plovdivs erfolgreiche Kulturhauptstadtbewerbung angestossen hat. Das macht Hoffnung.

Über den Autor

Robert B. Fishman schreibt regelmässig für unsere Rubrik Stadtentdeckungen. In den letzten Ausgaben war er unter anderem in Liverpool, Belgrad, Rabat, Aarhus und Porto.

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